Das Verbrechen von Orcival
schrieb, dachte ich von früh bis spät, wie ich sie zu barer Münze machen konnte. Mein findiger Verstand fand dafür tausend Möglichkeiten. Sie würden sich entsetzen, wenn ich Ihnen nur die Hälfte dessen aufzählen wollte, was ich mir damals ausgedacht habe... Doch eines Tages hatte ich selbst Angst vor meinen kühnen Ideen. Ich hatte gerade herausgefunden, wie man durch eine klitzekleine Operation einen Bankier um zweihunderttausend Francs erleichtern konnte ohne groÃes Risiko und Anstrengung. Das war so genial, daà ich mir sagte: Mein Junge, wenn das so weitergeht, wird ganz sicher der Augenblick kommen, wo du von der Idee zur Ausführung übergehst... Und aus Angst, ein Dieb zu werden, wurde ich Polizist.«
»Und Sie sind mit dem Wechsel zufrieden?« fragte Doktor Gendron.
»Was heiÃt zufrieden, Monsieur! Ich bin glücklich, da ich in völliger Freiheit und überaus nützlich meine rechnerischen und kombinatorischen Fähigkeiten gebrauchen kann. Das Leben hat für mich eine ungeheure Anziehungskraft gewonnen, weil ich noch eine Leidenschaft habe, die alle anderen beherrscht: die Neugier. Ich bin schrecklich neugierig.« Der Beamte der Sûreté lächelte vor sich hin.
»Es gibt Leute«, so fuhr er fort, »die haben eine regelrechte Theaterwut. Von dieser Wut habe auch ich etwas. Nur verstehe ich nicht, wie man sich für mehr oder weniger plausibel ausgedrückte Gefühle begeistern kann, die nur fiktiv sind! Wie das? Man lacht über die Scherze eines Komödianten, von dem Sie wissen, daà ihn die täglichen Sorgen zerfressen? Sie beweinen das traurige Schicksal einer Darstellerin, die sich vergiftet, und wissen doch ganz genau, daà Sie ihr danach über den Weg laufen werden. Das ist doch lächerlich!« Monsieur Lecoq machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Viel verrückter oder ernster als die gespielten sind die wirklichen Komödien, die tatsächlichen Dramen. Die Gesellschaft â das ist mein Theater. Meine Darsteller bieten mir echtes Gelächter und wirkliche Tränen...
Ein Verbrechen geschieht. Der Prolog.
Ich trete auf. Der erste Akt beginnt. In Sekundenschnelle habe ich mir jede Nuance der Inszenierung eingeprägt. Dann versuche ich hinter das Motiv zu kommen, ich gruppiere mein Ensemble, ich verbinde die einzelnen Episoden mit dem zentralen Thema, ich fasse alle Umstände zusammen. Die Exposition.
Bald entwickelt sich die Handlung, der rote Faden meiner SchluÃfolgerungen führt mich zu dem Schuldigen; ich verdächtige ihn, ich verhafte ihn, ich belaste ihn.
Und dann kommt die Schlüsselszene, der Beschuldigte verteidigt sich, er leugnet listig, will die Dinge verdrehen, aber mit den Waffen versehen, die ich ihm geschmiedet habe, übermannt ihn der Untersuchungsrichter; er widerspricht sich, er gesteht nicht, aber er ist überführt.
Und um diese Hauptperson herum die Nebenfiguren, die Komplizen, die Aufhetzer, die Freunde, die Feinde, die Zeugen. Die einen sind furchtbar, schrecklich, finster, die anderen grotesk. Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Komik im Schrecken liegt.
Das Schwurgericht, mein letztes Bild. Die Anklage spricht, aber ich habe ihr die Worte in den Mund gelegt; die Sätze sind Stickereien auf dem Leinwandtuch meines Berichtes. Der Gerichtspräsident stellt den Geschworenen die Gretchenfrage: schuldig oder nicht schuldig. Was für eine Spannung. Das Schicksal meines Dramas steht auf dem Spiel. Die Geschworenen antworten: Nein. Alles aus, mein Stück war schlecht, ich werde ausgebuht. Ist es hingegen ein Ja, dann war mein Stück gut, man klatscht, ich triumphiere.
Und am nächsten Tag suche ich meinen Hauptdarsteller auf, klopfe ihm auf die Schulter und sage zu ihm: âºDu warst nicht schlecht, mein Bester, aber du hast verloren, ich bin besser als du!â¹Â«
Spielte Monsieur Lecoq in diesem Augenblick etwa gar selbst eine Komödie, oder meinte er es ehrlich? Was war der Zweck dieser Autobiographie?
Ohne auf das Erstaunen seiner Zuhörer zu achten, griff er zu einer neuen Zigarre, die er über dem Glas der Petroleumlampe anzündete. Dann â sei es aus Berechnung, sei es aus Unachtsamkeit â stellte er die Lampe auf den Kaminsims zurück, und zwar dergestalt, daà das Gesicht von Vater Plantat voll beleuchtet wurde, während sein eigenes, indem er sich wieder setzte, in Dunkelheit getaucht war.
»Ich muÃ
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