Das Verbrechen von Orcival
wissen, wo sich das Schriftstück befindet. Er irrt sich. Er durchsucht sämtliche Schubladen, die seine Frau benutzt, er findet nichts. Er reiÃt die Schubladen heraus, er sucht unter dem Teppich, er durchwühlt das gesamte Zimmer. Nichts.
Da kommt ihm ein Gedanke. Könnte dieser Brief nicht unter dem Krimskrams auf dem Kaminsims liegen? Er fegt mit dem Arm die darauf liegenden Gegenstände herunter, auch die Uhr fällt herab und bleibt stehen. Es ist noch nicht einmal halb elf Uhr. Doch auch auf dem Kaminsims findet er nichts.
Jetzt wird der Mörder nervös.
Wo kann dieses wertvolle Stück Papier, für das er sein Leben riskiert, bloà stecken? Seine Wut nimmt zu. Der Schreibsekretär ist abgeschlossen. Die Schlüsssel dazu liegen inmitten der Scherben vom Teeservice auf dem Teppich, wo ich sie gefunden habe â er sieht sie nicht.
Er braucht etwas, ein Werkzeug, um den Sekretär aufzubrechen. Er holt von unten eine Axt.
Er hastet die Treppe herab, seine Verwirrung nimmt zu, er kriegt es mit der Angst. All diese dunklen Ecken und Verschläge beleben sich mit gespenstischen Phantomen. Mit der Axt hastet er wieder nach oben, bricht den Schrank auf, sucht, stöbert, wühlt. Nichts. Voller Wut schlägt er mit der Axt um sich, zertrümmert sämtliche Möbel.
Er stürzt in sein Arbeitszimmer, die Zerstörung geht weiter. Er nimmt in der Bibliothek ein Buch nach dem anderen aus dem Regal, schüttelt sie durch, wirft sie enttäuscht zu Boden.
Der verfluchte Brief ist nicht zu finden.
Seine Verwirrung ist jetzt zu groÃ, als daà er bei seiner Nachforschung noch die kleinste Sorgfalt und Methode walten lassen könnte. Sein Verstand ist ihm abhanden gekommen. Er wankt wahllos von einem Möbelstück zum anderen, durchwühlt zum x-tenmal denselben Schrank und schlägt blindwütig mit der Axt zu.
Da fällt ihm ein, daà man das Schriftstück vielleicht in die Polsterung irgendeines Sofas oder Sessels eingenäht haben könnte. Er greift zum Degen, um vorsichtig die Polsterung zu sondieren, er schlitzt den Samt auf...«
Monsieur Lecoqs Stimme, seine Intonation, seine Gesten lieÃen den Zuhörern das Schauspiel miterleben, Sie hielten den Atem an und vermieden sogar jede zustimmende Bewegung, aus Angst, ihn zu unterbrechen.
»Zu diesem Zeitpunkt ist die verzweifelte Wut des Comte nicht mehr zu zügeln«, fuhr der Beamte der Sûreté fort. »Er hatte sich gedacht, als er die Tat plante, daà er seine Frau töten würde, den Brief an sich nehmen und so schnell wie möglich fliehen wollte.
Und nun waren all seine Pläne zunichte gemacht worden. Wieviel verlorene Zeit, wenn jede vergeudete Minute seine Chance zur Flucht verzögerte.
Und dann suchten ihn Gedanken an tausend Gefahren heim, deren Möglichkeit er vorher nicht erwogen hatte. Warum sollte ihn denn nicht ein Freund zu einem Schwätzchen aufsuchen, wie das schon oft geschehen war? Was sollte ein zufälliger Spaziergänger denken, wenn er den Lichtschein hinter den Fenstern von Zimmer zu Zimmer huschen sah? Konnte nicht gar einer der Dienstboten zurückkommen?
Er hört merkwürdige Geräusche, die noch nie an sein Ohr gedrungen sind. Ihm scheint, man laufe im Nebenzimmer umher, jedenfalls knarrt doch das Parkett. Ist seine Frau wirklich tot? Wird sie sich nicht erheben, zum Fenster eilen und um Hilfe rufen?
Er ist so besessen von seiner Vorstellung, daà er wieder ins Schlafzimmer eilt, seinen Dolch ergreift und aufs Geratewohl zusticht.
Sie haben es bei der Obduktion selbst bemerkt, Doktor, daà all diese Verletzungen die gleiche Richtung haben. Sie bilden mit dem Körper ein gleichschenkliges Dreieck, was beweist, daà das Opfer gelegen haben muÃ, als man ihr diese Stiche beibrachte.
Und schlieÃlich bedenkt der Täter in seiner Enttäuschung und Wut den Körper der ermordeten Frau mit FuÃtritten...«
Monsieur Lecoq hielt inne, um Luft zu schöpfen.
Er erzählte nicht nur, was sich zugetragen hatte, er spielte es, untermalte seinen Bericht mit entsprechender Mimik, und jeder Satz lieà eine neue Szene entstehen, erklärte das Vorgefallene und verjagte etwaige Zweifel. Wie jeder geniale Künstler, der sich in die Rolle, die er zu spielen hat, hineinversetzt, verspürte auch der Detektiv etwas von dem Gefühl, das er wiedergab, sein bewegter Gesichtsausdruck gab vollendet die verschiedenen
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