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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Mörder, plötzlich nervös geworden und von Angst gepackt, seine Kaltblütigkeit verloren und sein Vorhaben nur zur Hälfte realisieren können.
    Aber man kann sich natürlich auch fragen, ob Guespin, während die Comtesse ermordet wurde, nicht woanders ein anderes Verbrechen beging.«
    Diese Hypothese schien dem Doktor so unwahrscheinlich, daß er nicht umhinkonnte zu protestieren.
    Â»Na, na, na!« meinte er.
    Â»Vergessen Sie nicht, meine Herren«, entgegnete Lecoq, »daß das Feld der Mutmaßungen schier unerschöpflich ist. Stellen Sie sich sonstwas für ein Zusammentreffen an Ereignissen vor, ich behaupte, daß sich dieser Umstand irgendwann einmal ergibt. Leuwen, ein verrückter Deutscher, hat einmal gewettet, daß es ihm gelingen wird, bei einem Kartenspiel dieselben Karten wie beim ersten Spiel wieder zu erhalten. Zwanzig Jahre lang hat er zehn Stunden pro Tag Karten gemischt und sich gegeben und wieder neu gemischt.
    Nach eigenen Worten hat er sein Kartengeben vier Millionen zweihundertsechsundvierzigtausendundachtundzwanzig Mal wiederholen müssen, ehe er die Wette gewonnen hatte.« Monsieur Lecoq hätte möglicherweise weitere Beweise für solch eine These erbracht, wenn ihn nicht Vater Plantat mit einer Handbewegung davon abgehalten hätte.
    Â»Ich billige Ihre Schlußfolgerungen«, sagte er, »ich halte sie sogar für mehr als nur wahrscheinlich, ich halte sie für wahr.«
    Monsieur Lecoq ergriff wieder das Wort, wobei er auf und ab ging, vom Fenster zu den Bücherregalen, von den Bücherregalen zum Fenster, bei wichtigen Erörterungen stehenblieb, wie ein General, der seinen Adjutanten am Vorabend der Schlacht den Schlachtplan diktiert.
    Das war ein neuer Lecoq, mit ernstem Gesichtsausdruck, wachem Blick, klarer und präziser Sprache, ein Lecoq, wie ihn die städtischen Beamten gut kennen, die sich des erfindungsreichen Genies des bemerkenswerten Beamten mehr als einmal versichern mußten.
    Â»Stellen wir uns vor, wie es zuging«, sagte der Beamte der Sûreté. »Es ist zehn Uhr abends. Draußen ist es dunkel, die Straßen verwaist, die Lichter von Orcival erloschen, die Dienstboten des Schlosses sind nach Paris gefahren, und Madame und Monsieur de Trémorel befinden sich allein im Schloß. Sie haben sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Die Comtesse sitzt vor dem Tisch, auf dem der Tee steht. Der Comte geht im Zimmer auf und ab und schwatzt mit ihr. Madame de Trémorel ahnt nichts. Ist ihr Gatte seit einigen Tagen nicht viel zuvorkommender, ja freundlicher als sonst! Sie argwöhnt nichts, und so kann der Comte hinter sie treten, ohne daß sie sich umdreht. Vielleicht erwartet sie, daß er sie mit einem Kuß überrascht.
    Doch er steht hinter ihr und ist mit einem langen Dolch bewaffnet. Er weiß, wo er zustechen muß, damit die Verletzung tödlich ist. Er stößt kräftig zu, so kräftig, daß der Dolchknauf zu beiden Seiten des Wundrandes einen Abdruck hinterlassen hat.
    Die Comtesse fällt lautlos vornüber und schlägt mit ihrer Stirn an der Tischkante auf. Der Tisch mit dem Tee sowie die Comtesse stürzen zu Boden.«
    Der Doktor nickte.
    Â»Welcher andere Mann als der Geliebte oder Gatte einer Frau kann in ihrem Schlafzimmer sein und sich ihr nähern, ohne daß sie sich umdreht?«
    Â»Das ist richtig«, murmelte Vater Plantat, »völlig einleuchtend.«
    Â»Die Comtesse«, fuhr Monsieur Lecoq fort, »ist nunmehr tot. Das erste Gefühl des Mörders ist ein Gefühl der Befreiung. Endlich! Endlich von dieser Frau befreit, die die seine war und die er so sehr hassen mußte, daß er sich zu einem Verbrechen entschloß; daß er sein glückliches, glänzendes, komfortables Dasein eintauschte gegen das schreckliche Leben eines Ruchlosen, ohne Monsieurland, ohne Freunde, ohne Heim, von jeder Zivilisation geächtet, von der Polizei und allen Gesetzen der Welt gejagt.
    Sein zweiter Gedanke gilt diesem Brief, diesem Schriftstück, dieser Akte, diesem nicht allzu großen Gegenstand, von dem er weiß, daß ihn seine Frau besitzt, er hat sie hundertmal gebeten, ihr dieses Schriftstück auszuhändigen, sie hat es stets verweigert, er braucht es unbedingt.«
    Â»Sie dürfen ruhig sagen, daß es so wichtig war, daß es ein Motiv für den Mord gewesen ist«, ergänzte ihn Vater Plantat.
    Â»Der Comte glaubt zu

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