Das Verbrechen von Orcival
Kopie. Wollte er sie zerreiÃen?
»Ich weià nicht, wo sie ist.«
»Aber ich weià es. Sie ist in der linken Schublade des Glasschrankes. Geh und mach mir das Vergnügen, sie zu holen.«
Während sie hinausging und das Schriftstück holte, sagte er zu Hector, der inzwischen ins Zimmer getreten war: »Arme kleine Berthe. Wenn ich sterbe, wird sie mich nicht überleben.«
Trémorel wuÃte darauf nichts zu erwidern; seine Hilflosigkeit war offensichtlich. Und dieser Mann soll irgend etwas ahnen, sagte er sich. Nein, das ist undenkbar.
Berthe kam zurück. »Ich habe sie gefunden«, sagte sie.
»Gib her.«
Er nahm die Kopie seines Testaments, las sie mit wachsender Genugtuung durch, nickte bei bestimmten Passagen, wo er an die Liebe zu seiner Frau erinnerte und sagte, als er mit Lesen fertig war, zu Berthe:
»Gib mir Tinte und Feder.«
Hector und Berthe gaben zu bedenken, daà ihn Schreiben zu sehr anstrengen könnte, doch er winkte nur ab, schrieb und reichte anschlieÃend Trémorel das Blatt.
»Lies laut vor«, sagte er, »was ich hinzugefügt habe.« Hector entsprach dem Wunsch seines Freundes, obwohl ihm vor Aufregung die Stimme zitterte, und las:
âºHeute (es folgten Tag und Uhrzeit), obwohl leidend, doch klar bei Verstand, erkläre ich, daà ich an dem vorliegenden Testament keine Zeile zu ändern habe. Niemals habe ich meine Frau mehr geliebt, niemals habe ich mehr gewünscht, sie, falls ich früher sterben sollte als sie, zur Alleinerbin all meiner Besitztümer zu machen.
Clément Sauvresy.â¹
So stark war Berthe, so perfekt beherrschte sie ihre Gefühle, daà sie die immense Befriedigung, die sie beim Verlesen des Textes überkam, geschickt verbarg. All ihre Wünsche waren erfüllt â und dennoch gelang es ihr vollkommen, Trauer auf ihren schönen Augen zu versprühen.
»Wozu das denn!« meinte sie seufzend.
So sagte sie, aber eine halbe Stunde später gab sie sich, allein mit Trémorel, überschäumender Freude hin.
»Nichts mehr zu fürchten«, sagte sie. »Absolut nichts! Wir sind frei. Wir können uns lieben, ein Leben lang. Drei Millionen, Hector! Wir besitzen mindestens drei Millionen! Ich erbe alles! Von jetzt ab kommt mir kein Advokat mehr ins Haus. Ich werde mich beeilen.«
Der Comte war unbestreitbar erleichtert, sie aller Geldsorgen frei und ledig zu wissen, weil man sich viel leichter einer millionenschweren Witwe als eines armen Mädchens ohne einen Sou entledigt. Ein wenig beruhigte ihn Sauvresys GroÃzügigkeit schon.
Eines Tages schlieÃlich nahm der Arzt Hector beiseite und bat ihn, die unglückliche SchloÃherrin, die ihren Mann so innig liebte, auf das Allerschlimmste vorzubereiten.
»Ich weià nicht«, so fügte er am Schluà hinzu, »ob Monsieur Sauvresy noch länger als zwei Tage leben wird.«
Sie aÃen beide wie gewöhnlich im Speisezimmer zu Abend, während eine der Kammerfrauen bei dem Kranken wachte. Hector erzählte Berthe, was ihm der Arzt gesagt hatte. Sie war daraufhin die Unvorsichtigkeit in Person. Einem der Dienstboten brauchte bloà ein Verdacht zu kommen â sie wären verloren gewesen. Hin und wieder stieà sie Hector mit dem Fuà unter dem Tisch an, um sie zum Schweigen zu bewegen â umsonst. Zum Glück wurde bald der Kaffee serviert, und dann waren sie allein.
Während Hector seine Zigarre rauchte, gab sich Berthe nun ungestört ihren Träumen hin. Sie rechnete damit, auf Valfeuillu ihr Trauerjahr abzuwarten, während Hector, um den Anschein zu wahren, ein hübsches kleines Landhäuschen ganz in der Nähe mieten sollte, wo sie ihn hin und wieder am Morgen überraschen würde. Das Ãrgerliche war nur, daà sie so tun muÃte, als würde sie den toten Sauvresy betrauern, wie sie scheinbar den lebenden geliebt hatte. Sollte sie diesen Mann denn nie loswerden? Aber schlieÃlich würde ja der Tag kommen, da sie die Trauerkleider ablegen konnte, ohne daà sich die SpieÃer darüber das Maul zerrissen. Was für ein Fest. AnschlieÃend würden sie heiraten. Wo? In Paris oder in Orcival?
Dann fragte sie sich besorgt, wann denn eine Witwe das Recht habe, sich erneut zu verehelichen â diesbezüglich gab es ja sogar ein Gesetz. Hector muÃte ihr gut zureden, um ihr begreiflich zu machen, daà sie warten müÃten. Ansonsten würden sie
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