Das Verbrechen von Orcival
sich unnötiger Gefahr aussetzen. Aber auch er hätte inzwischen seinen Freund am liebsten unter der Erde gesehen, denn er erhoffte sich davon, über kurz oder lang Berthe den Laufpaà geben zu können.
* * *
Z u vorgerückter Stunde gingen Berthe und Hector in Sauvresys Zimmer hinüber. Er schlief. Die Kammerfrau zog sich zurück, und sie setzten sich wie jeden Abend vor den Kamin. Um sie von seinem Bett sehen zu können, hätte er sich auf sein Kopfkissen stützen und sich aus dem Bett beugen müssen. Aber er schlief, wenn auch unruhig und fiebernd. Berthe und Trémorel schwiegen, und die bedrückende Stille wurde nur durch das Ticktack der Wanduhr oder das Rascheln der Buchseiten unterbrochen, wenn Hector sie umblätterte.
Es schlug zehn Uhr.
Kurz darauf wälzte sich Sauvresy zur Seite und erwachte. Gewandt und aufmerksam wie eine ergebene Frau war Berthe mit einem Satz bei ihm. Ihr Gatte hatte die Augen geöffnet.
»Fühlst du dich etwas besser, mein lieber Clément?« fragte sie.
»Nicht besser und nicht schlechter.«
»Wünschst du etwas?«
»Ich habe Durst.«
Hector, der den Blick bei den ersten Worten seines Freundes gehoben hatte, vertiefte sich wieder in seine Lektüre.
Vor dem Kamin stehend, bereitete sie sorgfältig den von Doktor R. verordneten Trunk zu. Als das geschehen war, holte sie aus ihrer Tasche das blaue Kristallfläschchen und träufelte, wie schon die Abende zuvor, ein paar Tropfen in den Trunk. Sie hatte keine Zeit mehr, das Fläschchen zurückzustecken, da legte sich ihr eine Hand auf die Schulter.
Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder; sie wandte sich um und stieà einen Entsetzensschrei aus. Die Hand, die sich ihr auf die Schulter gelegt hatte, war die ihres Mannes gewesen. Während sie vor dem Kamin gestanden und das Gift dosiert hatte, muÃte er heimlich aufgestanden sein und sich genauso heimlich an sie herangeschlichen haben. Seine Augen funkelten sie zornig und haÃerfüllt an.
In den Aufschrei Berthes fiel ein anderer Schrei, vielmehr ein dumpfes Röcheln. Trémorel hatte alles mitangesehen, alles begriffen, er war vernichtet. Alles entdeckt! Diese Worte zerplatzten wie Geschosse in seinem Kopf. Sekundenlang fiel kein Wort, man vermeinte, Hectors Herz klopfen zu hören. Sauvresy hatte sich wieder hingelegt und lachte ein durchdringendes, finsteres Lachen, das wie das Grinsen eines Skeletts klang, dessen Kiefer und Zähne aufeinanderklapperten.
Doch gehörte Berthe nicht zu den Geschöpfen, die ein einziger Schlag, so schrecklich er auch sein muÃte, zu Boden warf. Sie zitterte wie Espenlaub, die Knie wurden ihr weich, aber schon suchte sie nach einer möglichen Ausrede. Was hatte Sauvresy gesehen, hatte er überhaupt etwas gesehen? Was wuÃte er? Und selbst wenn er das blaue Fläschchen gesehen hätte, was bewies das schon. Es konnte, ja es muÃte reiner Zufall sein, daà ihr Mann sie gerade dann an der Schulter berührt hatte, als sie die schändliche Tat beging. All diese Gedanken schwirrten ihr blitzartig durch den Kopf. Und daraufhin hatte sie die Kraft, sich dem Bett zu nähern und mit schrecklich verzerrtem Lächeln â aber immerhin einem Lächeln â zu sagen:
»Hast du mir eben einen Schrecken eingejagt!«
Er schaute sie eine Sekunde lang an, die ihr jedoch eine Ewigkeit dünkte, und erwiderte:
»Ich bin aufgestanden, um euch zu sagen, daà es genug ist, ich bin am Ende meiner Kräfte, ich ertrage es keinen Tag länger, meinem langsamen Absterben beizuwohnen, das mir meine Frau und mein bester Freund bereiten.«
Er hielt inne. Hector und Berthe waren bestürzt.
»Ich wollte euch sagen: Genug der Rücksichtnahme, genug eurer Schlauheit, ich leide. Seht ihr denn nicht, wie ich leide! Beeilt euch, kürzt meinen Todeskampf ab. Tötet mich, aber tötet mich auf einmal, ihr Giftmischer!«
Bei dem letzten Wort fuhr der Comte de Trémorel wie von der Tarantel gestochen auf und stürzte sich mit zornigem Blick und ausgebreiteten Armen vorwärts. Bei dieser Bewegung glitt Sauvresys Hand unter das Kopfkissen und holte einen Revolver hervor, dessen Mündung auf Hector gerichtet war.
»Bleib, wo du bist!« rief er ihm zu.
»Er hatte geglaubt, Trémorel würde sich, nun, da das Gift entdeckt, auf ihn stürzen und ihn zu erdrosseln versuchen. Er irrte sich. Hector fuchtelte nur wie wahnsinnig in der
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