Das verdrehte Leben der Amélie
3. Oktober
I ch wache im Bett meiner Mutter auf und sie fragt: »Gut geschlafen?« Dabei habe ich ihr schon hundertmal gesagt, dass sie mich das nicht fragen soll! Ist sie taub, oder was? Ich will nicht gefragt werden, ob ich gut geschlafen habe, o.k.? Ich habe es ausgerechnet: Wenn ich achtzig Jahre alt werde und mir jeden Tag mindestens eine Person diese Frage stellt, werde ich 34.675-mal darauf antworten müssen. Wenn es zwei Personen sind, macht das schon 69.350-mal! Ich möchte mir meine Fähigkeit zu sprechen für sinnvollere Dinge aufheben!
7:33
Meine Mutter summt vor sich hin. Keine Ahnung, was sie hat. Gestern war sie noch nicht so drauf. Was ist bloß mit ihr los?
7:34
Meine Mutter hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben. Bäh! Wie Eklig! Ich schlafe nie wieder bei ihr im Bett, egal wie viele Gespenster noch in meinem Zimmer auftauchen!
8:15
Meine Mutter hat angeboten, mich zur Schule zu fahren. Bevor ich aus dem Auto gestiegen bin, hat sie mir noch einen Kuss verpasst. Grrr! Ich hasse es, wenn sie das macht – vor allen Leuten, und dann auch noch mit Lippenstift!
8:20
Kat und ich sind auf dem Klo und Kat versucht, mir den Lippenstift von der Wange zu wischen. Kat meint, meine Mutter sei verliebt.
Ich: »Das habe ich auch erst gedacht, aber das kann nicht sein! Gestern hatte sie noch Tränen in den Augen, als wir von meinem Vater gesprochen haben.«
Kat: »Sie wird vielleicht immer Tränen in den Augen haben, wenn sie von deinem Vater spricht.«
Ich: »Ja, aber sie könnte doch wohl abwarten, bis sie keine Tränen mehr in den Augen hat, bevor sie sich einen Neuen sucht, oder?«
Kat: »Gibt es denn niemanden, für den sie sich interessiert? Von dem sie spricht?«
Ich: »Hmm ... nein. Aber ...«
9:15
Kat und ich haben beschlossen, die erste Stunde zu schwänzen. Kat hätte jetzt eigentlich Erdkunde, ich Französisch. Wir haben uns links und rechts neben der Tür zu Monsieur Beaulieus Büro postiert und belauschen sein Telefonat. Er redet von einem Keine-Ahnung-was-für-einem-Kostenplan. Kat macht mir irgendwelche Zeichen, als wollte sie sich die Kehle durchschneiden. Ich antworte ihr ebenfalls mit Zeichen, dass ich nicht verstehe, woher ihre Gewaltfantasien kommen. Keine von uns scheint die Gesten der anderen zu verstehen.
9:25
Die Glocke läutet. Wir müssen beide zu unserer nächsten Stunde.
Ich: »He Kat, was sollten denn diese Kehle-durchtrenn-Gesten?«
Kat: »Verstehst du keine Agentensprache? Wenn man sich mit dem Daumen unterm Kinn langfährt, heißt das, dass die Mission abgebrochen wird. Du hast doch gehört, dass das Gespräch nichts mit deiner Mutter zu tun hatte!«
Ich: »Ach so, ich dachte, du wolltest ihm die Kehle durchschneiden. Das fand ich ein bisschen ... übertrieben.«
Kat: »Für heute haben wir jedenfalls genug geschwänzt.«
Ich: »Wir haben eine Stunde verpasst, jetzt übertreib nicht!«
Monsieur Beaulieu kommt auf uns zu. Er stemmt die Hände in die Hüften und schaut uns an.
Monsieur Beaulieu: »Meine Damen! Ihr habt also eine Stunde verpasst!?«
In dem Augenblick kommt er mir vor wie ein Riese, Kat und ich dagegen wie Liliputanerinnen.
Kat: »Amélie hatte ... Probleme, äh, Mädchenprobleme.«
Ich werfe ihr einen wenig begeisterten Blick zu.
Monsieur Beaulieu: »Was für Probleme, Amélie?«
Ich: »Probleme mit ...«
Kat starrt mich an und fährt sich mit dem Daumen über die Kehle. Ich sehe sie an, als wollte ich sagen: »Mann, ehrlich, du übertreibst es mit diesem Zeichen«, aber ich weiß nicht, ob mein Telepathieversuch dieses Mal funktioniert.
Ich: »Persönliche Probleme, sozusagen.«
Monsieur Beaulieu: »Also, ihr kennt die Regeln. Ihr werdet beide nach dem Unterricht nachsitzen!«
Erst war ich echt sauer, aber dann ging mir auf, dass er zumindest nicht mit meiner Mutter ausgehen konnte, wenn ich nachsitzen musste. Also sagte ich:
»Super! Äh, ich meine: Alles klar, wir haben verstanden!«
Mittags
Kat hat mir einen megalangen Vortrag gehalten, dass ich meiner Mutter mehr Freiheit lassen müsse. Dass ich auch nicht wollen würde, dass sie in meine Liebesgeschichten hineinpfuscht und blablablablabla. Sie hat gar nicht mehr aufgehört! Was weiß sie schon? Sie hat das komplette Familienpaket: Eltern (zwei), Schwester (eine), Hamster (einen). O.k., ich gebe zu, der Hamster ließe sich für ein perfektes Familienpaket noch optimieren. Ein Hund wäre da schon besser. Ein Hamster ist ein echtes Alibi-Haustier. So, als wollten deine Eltern
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