Das verfluchte Koenigreich
ihr, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Tania konnte sich ungefähr ausmalen, was in ihr vorging – es musste ein schwerer Kulturschock für sie sein.
»Keine Sorge«, sagte sie mitfühlend. »Du wirst dich bald an diese Welt gewöhnt haben.«
»Es ist wie das Fest des Weißen Hirsches, die Feierlichkeiten zum Mond der Reisenden und die Sonnwendfeiern auf einmal«, seufzte Rathina. »Wie ertragen die Sterblichen es nur, so zu leben? Und dieser Geruch, Tania! Stinkt es denn überall in dieser Welt so grauenhaft?«
»In den Städten schon«, gab Tania zu. »Aber nach einer Weile merkt man es nicht mehr.« Das hoffte sie jedenfalls, denn nach drei Wochen in der reinen Luft des Elfenreichs war der Gestank hier auch für sie unerträglich. Es roch nach einer Mischung aus heißem Dieselöl, überhitzten Motoren, Autoabgasen, gebratenen Zwiebeln, aufdringlichen Parfüms und Deodorants und den Körperausdünstungen von unzähligen verschwitzten Menschen, die dringend duschen sollten.
Plötzlich verfinsterte sich Rathinas Gesicht. Ihre Lippen wurden schmal und ihre Augen weiteten sich. »Hast du das auch gespürt, Tania?«, zischte sie.
»Wahrscheinlich fährt der Zug gerade ein …«
»Nein, das ist es nicht, eher eine Art Schatten«, beharrte Rathina und starrte Tania an. »Spürst du denn nichts?«
Tania sah sie ängstlich an. »Nein. Wovon redest du?«
Rathina spähte am Bahnsteig entlang.
»Was ist los?«, fragte Tania. »Stimmt was nicht?«
»Ich sehe nichts von hier aus«, sagte Rathina. »Wie denn auch, wenn diese Leute herumwuseln wie Ratten in einem Fass?« Sie stürzte zum Rand des Bahnsteigs, als wollte sie auf die Gleise hinunterspringen.
»Nein!«, schrie Tania, packte sie schnell am Arm und zerrte sie zurück. »Das ist gefährlich, Rathina!«, flüsterte sie ihr zu. »Auf den Gleisen wirst du überfahren! Und jetzt sag mir, was los ist!«
Rathinas Augen verengten sich. »Wir werden verfolgt«, sagte sie. »Jemand ist uns in die Welt der Sterblichen gefolgt. Ich spüre eine unheilvolle Gegenwart, als ob diese Person bereits ganz nahe ist.«
Ehe Tania etwas antworten konnte, erschallte eine Lautsprecherstimme über ihren Köpfen.
»Bitte Vorsicht auf Gleis 1 – in wenigen Minuten fährt der Intercity nach London ein – mit Halt in Polegate, Lewes, Haywards Heath, Gatwick Airport, East Croydon und Clapham Junction. Endstation Victoria Station.«
Kurz darauf erfüllte das Rattern und Fauchen des einfahrenden Zugs die Luft.
»Hilfe!«, keuchte Rathina. Erschrocken wich sie zurück und presste die Hände auf die Ohren, als der grün-weiße Zug quietschend vor ihnen zum Stehen kam.
»Ich hab dich ja gewarnt, dass es laut wird!«, rief Tania über den Lärm hinweg. »Das ist der Zug, auf den wir gewartet haben. Er bringt uns nach London!«
Aber während jetzt die Reisenden aus dem Waggon strömten, dachte sie mit einem flauen Gefühl im Magen an den Schatten, den Rathina gespürt hatte.
XII
G eht denn nichts in dieser verfluchten Welt ohne solch grauenhaften Lärm vor sich?«, klagte Rathina.
»Nicht, wenn es schnell gehen soll«, erwiderte Tania. »Und wir haben nicht viel Zeit, Rathina.«
»Ja, gewiss, aber ich glaube nicht, dass ich mich je daran gewöhnen werde, Schwester.«
Sie hatten einen Platz in einem der vorderen Wagen des überfüllten Zugs ergattert. Gegenüber saßen ein junger Mann mit einem MP 3-Player und eine Frau, die pausenlos telefonierte.
»Dieser Zug bringt uns in eineinhalb Stunden nach London«, erklärte Tania. »Wie lange dauert es, um von Veraglad zum königlichen Palast zu reisen?«
»Auf einem feurigen Ross und in vollem Galopp könnte ich die Reise vielleicht in einem halben Tag zurücklegen.«
»Na, siehst du«, sagte Tania. »Züge sind superschnell. Wie schmeckt dir das Sandwich?«
Tania hatte vorhin ein paar Sandwiches und Schokoriegel gekauft. Cola gab es nur in Dosen, sodass sie sich mit einem Tetrapack Johannisbeersaft begnügen musste. Beim Bezahlen war es zu einer brenzligen Situation gekommen: Als der Verkäufer ihr das Wechselgeld geben wollte, konnte Tania gerade noch rechtzeitig die Hand wegziehen, sodass die Münzen auf den Boden kullerten.
Rathina biss in ihr Sandwich und kaute. »Es muss genügen«, sagte sie und blickte sich kopfschüttelnd um. »Ich weiß nicht, wie Edric Chanticleer ein halbes Jahr in dieser Welt überleben konnte.« Sie sah Tania an. »Das muss doch schrecklich für ihn gewesen sein.«
Tania biss sich auf die Lippen.
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