Das verfluchte Koenigreich
»Ich weiß nicht«, sagte sie mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme. »Kann schon sein. Ich hab ihn nie gefragt.« Unwillkürlich berührte sie den schwarzen Onyx an ihrem Hals. Nach ihrer letzten Begegnung mit Edric hätte sie ihm die Kette am liebsten ins Gesicht geworfen, aber sie konnte sich nicht davon trennen. Noch nicht jedenfalls.
Nein, von Edric wollte sie jetzt nichts hören. Sie konnte das alles nur ertragen, wenn sie den Gedanken an ihn verdrängte. Aber irgendwo in ihrem Hinterkopf flüsterte eine Stimme: Es ist nicht wahr. Das kann einfach nicht sein. So etwas würde er mir nie antun.
Tania seufzte und wechselte schnell das Thema.
»Wusstest du eigentlich, dass unsere Mutter nicht aus dem Elfenreich stammt?«, fragte sie. »Ich hab das erst gestern erfahren.«
»Die Geschichte, wie unsere Mutter ins Elfenreich gekommen ist, kennt jeder bei uns«, sagte Rathina.
»Aber mir hat sie niemand erzählt.«
»Doch, viele Male, als du ein Kind warst.«
»Aber du weißt doch, dass ich mich an fast nichts erinnern kann, Rathina!«
»Nun, dann hör zu, ich erzähle dir die Geschichte«, sagte Rathina und blickte sich im Wagen um, um sicherzugehen, dass ihnen niemand zuhörte. »Ungefähr fünfzig Jahre, bevor im Elfenreich die Zeit der großen Dämmerung anbrach, ging ein kleines Schiff in der Küstenstadt Hmynal im Herzogtum Weir vor Anker. Nur eine einzige Reisende war an Bord, eine sterbliche Frau, die halb verhungert war. Sie wurde nach Caer Liel gebracht und von Lord Aldrich befragt.« Rathinas Augen leuchteten. »Und sie erzählte eine unglaubliche Geschichte. Ihr Name sei Titania, sagte sie, und sie sei die Tochter des Hauses Fenodree im Lande Alba, das jenseits des westlichen Meeres liegt. Es gab eine Prophezeiung, dass sie an ihrem zwanzigsten Geburtstag allein ein Schiff besteigen und ins Immerwährende Elfenreich reisen werde – etwas, was kein Sterblicher in den letzten tausend Jahren gewagt hatte. Weiterhin wurde ihr vorhergesagt, dass sie im Elfenreich das Geschenk der Unsterblichkeit erhalten werde, denn die Bewohner von Alba sind sterblich und leben höchstens fünfzig Jahre. Doch würde sie dann niemals nach Alba zurückkehren, um ihren Landsleuten das Geheimnis des ewigen Lebens zu verraten, sondern für immer im Elfenreich bleiben.«
Tania lauschte fasziniert.
»Titanias Geschichte war so ungewöhnlich, dass Lord Aldrich sie mit seinem einzigen Sohn gen Süden sandte, damit sie dem König selbst Bericht erstatten möge. Doch als unser Vater sie erblickte, entbrannte er in Liebe zu ihr, sodass er sie unverzüglich zu seiner Gemahlin machte.« Rathina lächelte. »Und die Liebe, die Titania für den König empfand, war so groß, dass sie freudig einwilligte, seine Frau zu werden. Und am Mittsommerabend gingen sie den Bund der Ehe ein, kaum zwei Monde, nachdem das Schiff an Land gegangen war. Durch die Zeremonie der Vereinigung der Hände wurde der Fluch der Sterblichkeit von der Seele unserer geliebten Mutter genommen und die Prophezeiung wurde somit erfüllt.«
»Dann ist sie als Sterbliche geboren«, murmelte Tania.
»Ja, gewiss, und zwanzig Sommer lang trug sie diese Bürde.« Rathina runzelte nachdenklich die Stirn. »Vielleicht war das der Grund, warum sie ihr fünfhundertjähriges Exil so standhaft ertrug.«
Tania holte tief Luft, lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster. Sie wusste nicht, was sie von Rathinas Geschichte halten sollte, aber sie fühlte sich ihrer Elfenmutter jetzt noch näher als vorher. Auch Titania hatte zwischen ihrem Geburtsland und einer fremden neuen Welt, von der sie fast nichts wusste, wählen müssen.
Rathina konnte die Menschenmassen kaum ertragen, die sich in der Victoria Station drängten.
»Bleib ganz dicht bei mir«, sagte Tania. »Hier kann man sich schnell aus den Augen verlieren.«
»Wohin hast du mich nur geführt, Schwester?«, klagte Rathina und blickte sich mit großen Augen um. »Ist denn ganz London so überfüllt?«
»Nein, zur Rushhour ist es hier besonders schlimm«, erwiderte Tania und nahm Rathinas Arm. »Es ist die Hölle, ich weiß, aber wir sind bald raus aus dem Gedränge. Vertrau mir, Rathina – diese Welt ist nicht so schrecklich, wie sie dir im Moment vorkommt. Es gibt hier auch Dinge, die dir gefallen werden.«
»Das zu glauben, fällt mir schwer«, murmelte Rathina.
Während sie der Menge zum Ausgang folgten, fiel Tania ein, dass sie niemals durch die Metallschranken kommen würde. Sie zog Rathina
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