Das verhängnisvolle Experiment
der Fingerkuppe darüber hinfuhr, da fühlte sie die typische Eindellung.
Sie sprang auf. »Name!« forderte sie. Doch dann wartete sie die Antwort nicht ab, sie riß der Liegenden mit zitternden Findern den Kittel über der Brust auf und griff nach der Marke.
»Hilia«, kam es im Flüsterton zwischen zusammengepreßten Lippen hervor.
Die Marke bestätigte es. Bei der Übeltäterin handelte es sich um eine gewisse Hilia aus der dritten Sippe, eine von denen dort drüben am Waldrand, eine von denen, die sich nicht an die Regeln gebunden fühlten. Aber daß sie sich jetzt auch noch über den Ritus hinwegzusetzen versuchten, das war neu, das rüttelte an den Grundfesten der Ordnung.
Hilia sprang auf, setzte sich auf den Rand der Pritsche und nestelte am Verschluß ihres Kittels. Sie schwieg, sie hatte kein Wort der Begründung und keine Entschuldigung. Sie schwieg mit zusammengebissenen Zähnen. Bangola hatte nichts anderes erwartet. Hilia kam aus der dritten Sippe, sie war eine von denen, die am Waldrand lebten.
Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sich Bangola hilflos. Dies war ein Fall, für dessen Lösung es keine Vorschriften gab, eine Verletzung der Regeln, die niemand einkalkulieren konnte. So ließ sie Hilia gehen, ungestraft und ungerügt. Ein wenig Verwunderung spürte sie darüber, daß sich diese Außenseiterin in nichts von den anderen unterschied, daß sie das Ordinationszimmer mit den gleichen anmutigen Bewegungen und hocherhobenen Hauptes verließ.
Als sich der Vorhang einen Augenblick lang öffnete, um Hilia zu entlassen, sah sie die lange Schlange der Wartenden und die wie Schranken ausgestreckten Arme der Botin Domela. »Die nächsten!«
Ihre Hände zitterten noch immer, als sie die folgenden Stiche setzte, und sie war froh, als sie die letzten vier der potentiellen Mütter behandelt hatte. Sie war müde und fühlte sich wie zerschlagen. Draußen verkündete Domela mit lauter Stimme das Ende der Reproduktion, und das Grollen der Sirene erstarb in einem hohlen Röcheln. Die Mütter verließen das Haus, gleichmütig, ohne Murren und ohne Eile.
Das Leben dort draußen würde weitergehen, als wäre nichts geschehen, als wäre die Welt geblieben, wie sie am Morgen dieses Tages gewesen war, am Morgen, als die Konstellation der Sonnen den Beginn der Reproduktion angekündigt hatte. Aber wie lange würde es noch so bleiben? Bangola wußte, daß sich Schwerwiegendes ereignet hatte. Und sie empfand eine unklare Angst vor der Zukunft.
Die Sonnen hatten ihren Weg fast hinter sich gebracht. Sie standen jetzt in der Nähe des vierzehnten Stabes, nebeneinander wie zwei Freundinnen, und ihre runden Bäuche berührten die Spitzen der Bäume. Die Zeit des Mahles rückte heran.
Sie lagerten auf dem weichen Pflanzenteppich, bäuchlings, die schönen Köpfe auf die verschränkten Hände gestützt, dösten in den Abend oder unterhielten sich, sie blinzelten in das matte Licht der Sonnen mit schläfrigen Augen oder lauschten auf das Säuseln des Abendwindes.
Schließlich erhoben sie sich, als wäre ein unhörbarer Befehl ergangen, mit kongruenten, genau abgestimmten Bewegungen und richteten ihre Blicke zum Rand des Ortes. Von dort drüben erklang ein zuerst noch leises Summen, täuschend ähnlich dem, das ihnen allabendlich Speise und Trank verhieß.
Doch dann stutzten sie, dieses Geräusch war anders als das gewohnte, tiefer, lauter nun auch und fast zornig, und je weiter es anschwoll, um so mehr ging es in ein donnerndes Röhren über. Sie standen stumm und steif und blickten auf zu den beiden Sonnen, aus deren Richtung der ungewöhnliche Lärm zu kommen schien.
Ein dunkler Schatten verschluckte für einen Augenblick das Licht der Sonnen und spie es wieder aus. Fast die Wipfel der Bäume streifend, raste etwas über den Waldrand heran und jagte heulend über sie hinweg, ein Ding von dreieckiger Form, das entfernt an eine riesige Schildechse erinnerte. Aber noch nie hatten sie eine so große Schildechse gesehen, und noch nie hatten sie gehört, daß diese Tiere fliegen konnten.
Sie folgten dem seltsamen Geschoß mit den Augen, und auf ihren Gesichtern zeigte sich keine Spur von Furcht, sie sahen, wie es sich senkte, wie es in geringer Höhe über die Häuser der dritten Sippe hinwegfegte, und sie hörten, wie es sich drüben im Wald eine Schneise durch die dichten Baumbestände brach. Dann waren weit entfernt das Krachen berstenden Holzes, das Knattern splitternder Äste und ein dumpfer Aufschlag.
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