Das verhängnisvolle Experiment
empfanden. So verlangte es der Ritus. Die Silhouette des vierten Stabes spaltete die beiden Sonnen in gleiche Teile. Ein wenig überragte seine Spitze das gelbe Gestirn, das die Wärme des Lebens, die Nahrung und den Regen zu spenden hatte. Aber Bangola wußte, daß diese winzige Abweichung nicht darauf zurückzuführen war, daß sich etwas geändert hatte, seit die Alten die Riten geschaffen hatten, sondern darauf, daß sie selber ein wenig kleiner war als die Alten.
Sie stand auf, grüßte die Sonnen mit einer knappen Verneigung und wandte sich dem großen Haus zu. Sie war bereit. Sie würde an diesem Tag tun, was die Alten in Regeln gefaßt hatten.
In ihren, Bangolas, Händen, lag der Fortbestand der Bewohner des Ortes. Sie gab das Signal, indem sie mit der Hand einen waagerechten Kreis über dem Kopf beschrieb, und auf dem Dach des großen Hauses begann die Sirene zu tönen. Ein tiefes Grollen schwang über die Häuser. Es würde anhalten, bis die Sonnen ihren Weg über den Himmel vollendeten, bis sich der Tag der Reproduktion seinem Ende zuneigte!
Bangola begab sich in ihren Ordinationsraum im großen Haus und legte die vorgeschriebenen Instrumente zurecht. Sie tat es mit langsamen, weitausholenden Gesten, genau, wie die Riten es forderten.
Alles war festgelegt, nichts blieb dem Zufall überlassen, die Strukturen der Gesellschaft verlangten Genauigkeit, sollten sie nicht zerstörerischen Belastungen ausgesetzt werden. Die Riten waren fehlerfrei, hundertmal erprobt, nur sie allein vermochten das Überleben zu garantieren.
Domela, die Botin, brachte die Daten. »Wie viele?«
»Zweihundertzwölf.«
»Zweihundertzwölf? Das sind mehr als beim letztenmal.«
Domela blickte auf die Karte. »Ja, mehr.«
»Viel mehr.«
Wieder der orientierende Blick. »Vierundzwanzig mehr. Aber es sind zweihundertzwölf gestorben. Die Kartei sagt es.«
Bangola hob die Schultern. »Die ersten acht sollen kommen!«
Sie waren gleich groß, gleich ebenmäßig, sie hatten die gleichen anmutigen Bewegungen, und sie trugen ihre Köpfe gleich stolz, das Kinn ein wenig angehoben, den schweren Haarknoten im Nacken. Sie waren schön. Sie waren die Mütter der neuen Generation.
Die erste von ihnen trat an die Liege heran, öffnete den Umhang vom Nabel an abwärts und streckte sich aus, die Beine mäßig gespreizt. Sie lag ganz still, still wie eine Trainingspuppe, und sie zuckte während der kurzen Manipulation mit keinem Muskel ihres makellosen Körpers. Die anderen taten es ihr gleich, der Ritus schrieb jede Bewegung und jede Geste vor, nur bei einigen von ihnen zeigten sich für Sekunden winzige Pickelchen auf der Haut, wenn Bangola mit dem Tupfer über die Leistenbeuge strich.
Den feinen Stich der Elektronadel spürten sie nicht und auch nicht die Vibrationen der Schockspritze. Unter der ersten acht war keine, die bereits stimuliert worden war, ihre Leiber waren makellos glatt und so flach wie die Bäuche von Schildechsen. »Die nächsten acht!«
Das gleiche Spiel, schnell, tausendmal geübte Handgriffe. Zwei aus dieser Gruppe trugen bereits das Mal der ersten Reproduktion neben der rechten Leistenbeuge. Bangola wechselte auf die linke Seite hinüber, und ein wenig Verdruß stieg in ihr auf, als sie bemerkte, daß sie hier ein wenig unsicherer agierte als rechts. Trotzdem saßen die Stiche augenblicklich an der richtigen Stelle.
Bei der elften Gruppe verfehlte sie eine Eizelle, sie mußte die Nadel erst ein Stück zurückführen und die winzige Wölbung suchen, ehe sie den Schock auslösen konnte. Sie war unzufrieden mit sich, und sie nahm sich vor, die linksseitige Arbeit in den nächsten Tagen intensiver zu trainieren.
Von nun an ließ sie sich ein wenig mehr Zeit, wenn es sich um den zweiten Reproduktionsschock handelte. Und bis zur zweiundzwanzigsten Gruppe ging tatsächlich alles glatt. Obwohl sie jetzt immer häufiger auf die kleine Narbe der Erststimulation traf.
Dann aber geschah etwas Unglaubliches. Sie sah den kleinen rötlichen Fleck auf der rechten Seite, unmittelbar neben dem dunklen Haarstrich und eine knappe Spanne weit unterhalb des Nabels, ging um die Liege herum und setzte den Tupfer an. Und da sah sie die Narbe auch dort, winzig und rund und deutlich im matten Blau der Haut, das Mal der Reproduktion. Zuerst wollte sie es nicht glauben, sie versuchte sich einzureden, es handele sich um eine Pigmentstörung, um einen Pickel oder eine Entzündung, wie sie noch hin und wieder auftraten, aber als sie mit
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