Das verhängnisvolle Experiment
Dunkel zu lichten. Er sieht Gesichter, die sich über ihn beugen, und hört Stimmen, die flüsternd Worte austauschen. Doch er begreift den Sinn der Worte nicht.
Beim viertenmal wird er sich seiner Situation annähernd bewußt und beschließt zu sterben. Aber die Ärzte und die Maschinen zwingen ihn ins Leben zurück, pressen das Sein in ihn hinein, wie eine Pumpe einen leeren Tank mit Wasser füllt.
Er benötigt eine lange Zeit, um nach und nach zu begreifen, daß von ihm weniger als ein Torso übriggeblieben ist. Und als das entsetzlichste empfindet er die Tatsache, daß er lebt, trotz allem noch immer lebt.
Dann beginnt er die Tage zu zählen. Obwohl er nicht weiß, wie lange er ohne Bewußtsein gelegen hat, reiht er in Gedanken Datum an Datum, sinnlos, da sie ohne Anfang und ohne Ende sind. Nach einer Woche gelingt es ihm, sich einem der Ärzte verständlich zu machen. Der Chirurg ist ein junger Mann, einer von denen, die sich häufig bei ihm sehen lassen, und er korrigiert den Kalender mit verständnisvollem Lächeln. »Plus neun, Vamos«, sagte er mehrmals und bewegt dabei ausdrucksvoll die Lippen. »Plus neun!« Und Yahiro kommt es vor, als sei es endlich gelungen, die erste Bresche in den Wall seiner Abgeschiedenheit zu sprengen.
Zwei Tage danach wird ein Fernsehgerät über dem Fußende seines Bettes montiert. Man macht ihm deutlich, daß er es durch Pfeiftöne an- und abschalten kann und daß die Senderwahl durch Pfiffe in verschiedenen Tonhöhen erfolgt. Mehrere Stunden lang laufen vor seinen Augen die unterschiedlichsten Programme ab, ohne daß er imstande ist, die erforderliche Konzentration aufzubringen, um auch nur eins bis zum Schluß zu verfolgen. Immerhin erfährt er auf diese Weise, daß sich in der Welt nichts verändert hat.
Wenig später wird das Gerät wieder demontiert. Er versucht es zu verhindern, aber die drei ihm unbekannten Pfleger verstehen die Sprache seiner Augen nicht. Und überhaupt hat er das Gefühl, daß sie darauf bedacht sind, ihn nicht anzusehen. Sie entfalten eine hektische Betriebsamkeit, tragen den Monitor hinaus und stellen Möbel um. Nach ihnen kommt die Schwester, um seine ohnehin blütenweiße Bettwäsche zu erneuern. Er spürt, daß sich Ungewöhnliches andeutet.
Am Nachmittag dieses Tages führt die Chefärztin zwei Besucher ins Zimmer. Die beiden Männer tragen die gleichen grünen Kittel wie Professor Menura, und ihre Hauben sind nur insofern anders, als sie den gesamten Schädel bedecken, während die Sonja Menuras im Nacken einen Teil des schönen schwarzen Haares freiläßt. Obwohl die beiden Männer wie Ärzte gekleidet sind, erkennt er auf den ersten Blick, daß sie eher alles andere sein könnten, auf keinen Fall jedoch Ärzte. Er sieht es an Kleinigkeiten, an der Haltung, die ein wenig Unsicherheit angesichts der ungewohnten Umgebung verrät, an der Art, wie sie sich im Zimmer umsehen, mit kurzen, orientierenden Blicken, als müßten sie sich jeden Gegenstand genau einprägen, um hinterher seine Aufgabe zu analysieren, und an ihren Bewegungen, die gehemmt und übervorsichtig wirken. Und er sieht, daß dieser Art, sich zu bewegen, keine Absicht zugrunde liegt, daß sie ein Teil von ihnen ist, eine Verhaltensweise, vergleichbar der sichernden Vorsicht eines Zobels.
Sonja Menura setzt sich zu ihm auf die Bettkante, wobei sie sich bemüht, den sauber aufgetürmten und geformten Hügel, der einen zugedeckten Körper vortäuschen soll, nicht unversehens einzudrücken. »Diese beiden Kollegen möchten sich mit dir unterhalten, Vamos«, sagt sie leise.
Er mag ihre Stimme. Sie ist tief und kräftig und voll von warmen Tönen. Er kennt mittlerweile jede Nuance, er kann von der Stimme ablesen, ob Sonja Menura mit den Werten auf den Anzeigen zufrieden ist oder nicht, mit der Blutzusammensetzung, der Herzfrequenz und dem Hirnstrombild. Er vermag genau herauszuhören, in welcher Stimmung sich die junge Frau befindet, ob es Sorgen gibt oder Ärger gegeben hat. Das alles ist in ihrer Stimme.
Diesmal aber versagt seine Erfahrung. Da ist ein neuer Unterton, ein bisher nicht gehörter, einer, den er nicht zu analysieren vermag, ein beinahe ängstliches Schwingen.
»Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, Vamos«, fährt sie fort und blickt unverwandt auf die Ziffernfenster und Skalen. »Du mußt dir deine Antwort sehr genau überlegen, hörst du? Sehr genau. Dein weiteres Leben wird davon abhängen.«
Das klingt ernst, sehr ernst, obwohl es ihm fast wie Hohn erscheinen
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