Das verhängnisvolle Experiment
offengeblieben, wie er meinte, bohrende Fragen.
Wenn man damals gewartet hätte, bis man all die Ungereimtheiten geklärt hätte, dann wäre das, was danach geschehen war, vielleicht zu vermeiden gewesen.
»Hör auf, Stenelor!« rief Borelie zornig. »Wir hatten dazu drei Jahre Zeit. Und was ist dabei herausgekommen? All deine Argumente sind verworfen worden. Find dich endlich mit den Tatsachen ab.«
Mit den Tatsachen abfinden, wie leicht sich das sagte. Sich bestimmten Mechanismen unterwerfen zu müssen, weil anders die Strukturen der Gesellschaft nicht zu erhalten wären, wie schnell das den Widerspruch lähmte. Als ob solche Strukturen bis in alle Ewigkeit galten, heute wie vor drei Jahren. Vielleicht war in der Zwischenzeit alles anders. Oder vielleicht waren die, die da kamen, anders.
Borelie legte schweigend die Spule ein und holte das Bild des fremden Schiffes auf den Nebenschirm. »Sieh dir das genau an!« forderte sie hartnäckig. »Keine Abweichung. Das sind die gleichen Fremden, das ist die gleiche aggressive Intelligenz. Und wenn sie erfahren, daß ihre Freunde hier in der Nähe der Stadt… Nein, Stenelor, wir müssen auf alles gefaßt sein.« Sie blieb bei dem, was sie ihre Überzeugung nannte, und schließlich packte sie ihn beim Arm. »Und wenn sie außerhalb des Ringes ihr Unwesen zu treiben beginnen, Stenelor, dann wirst du deine Gruppe zusammenrufen, und ihr werdet ihnen entgegentreten. Wir tragen Verantwortung für das Leben auf dieser Welt, und der kann sich keiner von uns entziehen.«
Sie tat, als lehnte er die Konfrontation mit den Fremden aus Angst ab, aus Besorgnis, ihm selbst könnte etwas geschehen. Wie schlecht sie ihn doch kannte. Ihm ging es einfach um die Begegnung, um die Chance, sich mit den anderen zu verständigen. Es schien ihm widersinnig, sich zu bekämpfen, nur weil man bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, miteinander zu reden.
Eine Erzählung fiel ihm ein, ein Bericht aus den Anfängen der Neubesiedlung. Damals, das mochten jetzt wohl mehr als einhundert Jahre her sein, hatten die neu entstandenen Zentren noch keinen Kontakt zueinander. Eine Gruppe der Stadt, die weit entfernte Siedlungen der Monogenen zu kartieren hatte, war auf eine andere Gruppe getroffen, auf die Expedition einer anderen Stadt. Damals hatte man es als Selbstverständlichkeit empfunden, unverzüglich in Abwehrstellung zu gehen, man hatte einander nicht gekannt, hatte bis dahin nichts von der Existenz der anderen gewußt, aber es hatte kaum dreier Sätze bedurft, um sich zu verständigen.
Vielleicht gelang Ähnliches auch mit den Fremden.
»Aber nein, Stenelor!«
Weshalb nicht? Weil sie aus einer ganz anderen Welt stammen? Weil ihre Evolution eine andere, unabhängige ist? Weil sie im Gegensatz zu den hier geltenden Regeln offenbar aus zwei Formen bestehen? Oder weshalb sonst? Das sind doch alles keine Gründe, sich gegenseitig umzubringen.
»Das nicht. Aber Gründe muß es wohl geben.«
»Kennst du sie denn?«
»Die Gründe? Aber nein!« Borelie winkte ab. »Wenn jemand sie kennt, dann nur die Fremden. Sie haben angegriffen, nicht wir.«
»So werde ich sie danach fragen. Ja, fragen. Ich werde mit ihnen reden, Borelie. Wozu hätten wir sonst nach einer Möglichkeit der Kommunikation mit ihnen gesucht?«
»Aber du weißt doch genau, daß ihre Aggressivität…«
»Zumindest werde ich es versuchen, Borelie.«
»Untersteh dich, Stenelor!«
In diesem Augenblick warf der Vibrator seinen Umhang über die Stadt.
»Sie kommen!« rief Borelie erregt und eilte aus dem Zimmer. Stenelor aber trat langsamen Schrittes in die Wölbung der Panoramakanzel, die die senkrechte Front des Zentralturmes wie eine durch inneren Druck herausgetriebene Blase überragte. Aus den Giebelemittoren der Stadt stieg dünner Nebel, verdichtete sich im Aufwärtssteigen zu dicken Wolken und breitete sich hoch über den Gebäuden wie eine undurchdringliche Decke aus, ein gewaltiger, schützender Schild, der das Leben der Bewohner gegen die Atmosphäre und den freien Raum darüber abschirmte. Die Stadt war bereit.
Eben wandte sich Stenelor wieder seinen Informationsschirmen zu, als Borelie abermals ins Zimmer wirbelte. Sie blieb unmittelbar vor ihm stehen und fixierte ihn aus großen Augen, in denen ein ihm unbekanntes Flimmern war.
»Untersteh dich!« wiederholte sie. Und dann ging sie hinüber zu seinem Pult und legte ihre Karte auf die schräge Fläche. »Ich bitte dich um deinen Ring, Stenelor«, sagte sie. »Und ich
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