Das verhängnisvolle Experiment
überlagert wurden von grellbunten, wirbelnden Kreisen.
Doch dann war plötzlich alles wieder da, ungewöhnlich scharf konturiert und gegenwärtig, das lächerliche kleine Arbeitszimmer im einundsechzigsten Stock, der Schreibtisch, der Bilddrucker, der Sessel – und der Mann im Sessel…
Haston hört eine Stimme, die jedes Wort klar akzentuiert, aber er benötigt Sekunden, um herauszufinden, daß es seine eigene Stimme ist.
»Die Entwicklung, an diesen Gedanken müssen wir uns endlich gewöhnen, ist ein Prozeß, der im großen wie im kleinen nach denselben Gesetzmäßigkeiten abläuft. Sehen Sie sich beispielsweise die Lebenswege der Sterne an. Die Himmelskörper haben ihren Ursprung im Chaos einer Nova, Energie verdichtet sich zu Materie, und diese Materie beginnt sich den Gesetzen der Mechanik entsprechend zu bewegen. Die spontan entstandenen Schwingungen und Ungleichförmigkeiten werden mehr und mehr gedämpft, die Bewegungen gleichen sich an, alles strebt der Entropie zu, dem Ausgleich, dem Stadium der Ruhe. Und was kommt nach der Ruhe?«
Sein Gegenüber antwortet nicht. Der Mann blickt ein wenig konsterniert. Wahrscheinlich begreift er überhaupt nicht, worum es geht.
»Sehen Sie, es ist einer der Grundzüge der Natur, daß sie einen Zustand relativer Ruhe anstrebt, nur um ihn sofort wieder aufzuheben. Das ist der eigentliche Widerspruch, dem wir die Bewegungsformen der Materie verdanken und damit auch die Entstehung alles Neuen. Die Planeten und Monde kreisen langsamer, unmerklich versiegt ihre Bewegungsenergie, sie nähern sich der Sonne, schließlich kollabiert das gesamte System, und…?«
Abermals keine Antwort. Nur fragendes Unverständnis.
»Ein neuer Anfang, eine Nova, ein neuer Stern, eine neue Sonne, eine neue Ordnung, die sich den alten Gesetzmäßigkeiten fügt, abermals einem Ausgleich zustrebend.«
Endlich regt sich der Mann im Sessel. »Und was bedeutet das für uns, für die Gegenwart? Oder anders gefragt: Weshalb erzählen Sie mir das alles? Ich bin hier, um mir ihre Pläne anzuhören. Kommen Sie bitte zur Sache, Professor.«
»Aber ich bin bei der Sache, mein Freund. Wir, die Pflanzen, die Tiere, die Menschen, das Leben, wir sind Bewegungsformen dieser Materie. Was besagen will, daß wir denselben Gesetzen unterliegen.«
»Wenn Sie mir jetzt erklären wollen, Haston, daß das Leben nichts Ewigwährendes ist, daß alles einen Anfang und ein Ende hat, dann kommen Sie um ein paar Jahre zu spät. Mir ist durchaus bekannt, daß ich nur für eine gewisse Zeit am großen Spiel beteiligt bin.«
»Ich spreche nicht von Ihnen, nicht vom Individuum. Ich meine das Leben an sich. Alles Lebende wird eines Tages von dieser Erde verschwunden sein.«
Der Mann lehnt sich im Sessel zurück und lächelt. »Auch damit kann ich mich abfinden, Professor. Wenn ich nur sicher sein kann, daß es nicht heute oder morgen geschieht.«
Das sagt er mit stoischem Gleichmut, mit einer an Ignoranz grenzenden Teilnahmslosigkeit. Sagt es, als gäbe es keine Nuklearwaffen und keine Lasersatelliten, keine Kampfviren und kein ständiges Lavieren an der Grenze zur letzten Auseinandersetzung.
Haston fühlt sich durch das ostentativ zur Schau getragene Desinteresse seines Gegenübers herausgefordert. Dieser Staatssekretär reagiert wie die meisten anderen Menschen auch. Sie alle wissen sehr gut, daß viel auf dem Spiel steht, alles, um genau zu sein, aber jeder hofft, das Verderben werde ausgerechnet ihn verschonen. So wie sie den Gedanken an den eigenen, natürlichen Tod verdrängen, so schieben sie auch die Möglichkeit des nahen Endes der menschlichen Zivilisation von sich. Sie sind wie Kinder, die ihre Ängste durch Lärm zu übertönen versuchen, wie der Vogel Strauß, von dem die Sage behauptet, er habe den Kopf in den Sand gesteckt, um die nahende Gefahr nicht sehen zu müssen. Sie sind wie Lemminge, aber leider sind sie eben Lemminge, die denken und fühlen und lieben und trauern. Und das macht die Sache so tragisch.
»Ich bin ziemlich sicher, daß es geschehen wird«, sagt er mit Nachdruck. »Und zwar bald.«
Zum erstenmal zeigt sein Gesprächspartner ein wenig mehr als nur gedämpftes Interesse. »Sie glauben also, daß es Krieg geben wird?«
Haston nickt. »Unbedingt! Immer hat es Kriege gegeben. Ich sehe keinen Grund, aus dem sich das plötzlich ändern sollte. Obwohl der Krieg nicht die einzige Gefahr ist, der sich die Menschheit gegenübersieht. Und vielleicht ist er nicht einmal die
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