Das Verheissene Land
konnte das nicht verstehen, denn er und alle seines Volkes hatten gesehen, wie Kragg über das Meer davongeflogen war. Sie hatten gesehen, wie seine Flügel die Sonne verdeckten. Turvi sagte, er wartete in dem verheißenen Land. Wie konnte er sich dann Nacht für Nacht am Himmelszelt zeigen?
Wie immer, wenn ihn schwierige Gedanken heimsuchten, schloss Bran die Augen. Gedanken waren flüchtige Wesen für ihn, und wenn er sie nicht festhielt, entschwanden sie wie Morgennebel. Er wusste, dass es Kragg war, der sich dort oben zeigte, denn sonst wären keine Sterne am Himmel. Die Sterne waren die Juwelen, die zwischen seinen schwarzen Federn blinkten. Doch wenn er, der alte Gott des Felsenvolkes, jede Nacht unter dem Himmel schwebte und auf die Menschen herabsah, warum hörte er dann nicht die Gebete seines Volkes?
Bran schüttelte den Kopf. Er wollte nicht daran denken. Eine andere Gottheit hatte sich ihm gezeigt. Cernunnos war der Gott, den er jetzt anbetete. Der, der Hörner trägt, Tirs Gott, der Gott der Arer, hatte ihm die Träume gegeben. Tir wusste es, denn er hatte ihr das gesagt. Sie war eine kluge Frau, sie lauschte seinen Gedanken, wenn er selbst sie nicht verstand. Und die Jahre als Galuene hatten ihr die Fähigkeit gegeben, Cernunnos Worte zu verstehen. Doch Turvi und all die anderen konnten niemals verstehen, dass Kragg sie verlassen hatte.
Er bog in die schmale Gasse zwischen den Häusern ganz hinten an der Mole ein. Die Gasse führte ihn auf einen weiten, offenen Platz, der hinter einem Grashügel lag, geschützt vor Wind und stürmischen Fluten. Ein gutes Dutzend Lederzelte stand in einem weiten Kreis auf der grasbewachsenen Fläche, verbunden durch ein Netz von Wegen und Trampelpfaden. Am anderen Ende des Lagers fiel das Gelände zum Strand hin ab, wo die dunklen Wellen über einen Gürtel aus Tang heranrollten. Der Platz öffnete sich nach Osten, so dass der Schnee hier bereits früh geschmolzen war.
Der Lagerplatz war menschenleer, wie immer zu dieser Tageszeit. Nur der Sohn von Kai und Lillevord hatten sich erfolgreich verstecken können, als die Frauen Männer und Kinder zum Essen riefen. Die zwei Jungs saßen an der Feuerstelle in der Mitte des Platzes und schnitzten an ihren Bögen. Als sie ihn bemerkten, sprangen sie auf und suchten hinter dem Holzstapel Zuflucht. Sie zielten mit ihren sehnenlosen Bögen auf ihn und schossen unsichtbare Pfeile durch die Luft. Bran zeigte auf sie, denn er mochte es nicht, wenn sie über so etwas Spiele machten. Er wollte mit ihnen über den Krieg sprechen, über einen Freund, der im Hügelland der Vandarer von ihm gegangen war, doch er wusste nicht, ob sie es begreifen würden. Es waren noch Kinder und er fühlte sich bereits so unglaublich alt.
Aus jedem Zelt stieg Rauch auf und der Geruch nach gekochtem Fisch und Fleisch hing in der Luft. Er spürte, dass er hungrig war. Gwen war mit etwas getrocknetem Fleisch zu ihm und Dielan gekommen, doch das lag bald einen halben Tag zurück.
Noch einmal schüttelte er den Umhang aus, ehe er ihn zusammenrollte und am Ende der Gasse auf den Hauptweg einbog. Sein Zelt lag am anderen Ende gleich neben dem von Dielan. Er hoffte, dass Tir etwas von dem getrockneten Fleisch eingeweicht hatte. Er war den Fisch langsam leid. Jeden Abend, seit er aus dem Krieg zurückgekehrt war, hatte der dampfende Topf von den silbernen Leibern der Fische geglitzert. Die Tirganer fingen diese Schwarmfische am Rande des Eises mit Netzen, und Tir kochte sie zusammen mit Tang. Sogar der Körnerbrei, den sie ihm morgens gab, schmeckte besser. Er sehnte sich nach frischem Fleisch und dachte oft an die Jagden in den Lanzenbergen zurück. Wenn der Hirsch erlegt war, versammelte sich die Jagdmannschaft am Feuer und briet Leber und Herz über der Glut. Die Berge waren fruchtbar und gaben ihnen alles, was sie brauchten. Damals waren diese Berge seine ganze Welt gewesen und nur die Geschichten am Lagerfeuer wussten darüber zu berichten, was auf der anderen Seite der Ebene und des Meeres lag. Doch damals war er jung gewesen, und die Träume waren noch nicht zu ihm gekommen. Noj war damals Häuptling und seine Tochter die Frau des Vogelmannes. Es waren glückliche Tage gewesen.
Bran rollte die Schultern und schüttelte die Erinnerungen ab wie ein Hund das Wasser aus seinem Fell. Er war jetzt am Zelt.
»Tir?« Er neigte den Kopf zur Seite und lauschte auf eine Antwort, doch das Einzige, was er hörte, waren die Tirganer, die am Hafen lachten und
Weitere Kostenlose Bücher