Das Verheissene Land
Kluft.
Das Erste, was er sah, war, dass die Schlucht hinter ihnen eingestürzt war. Riesige Blöcke waren aus den Wänden gebrochen und bildeten am Grund der Kluft eine Mauer aus spitzen Felsen. Bran war erleichtert, weil die Roten sie so nicht weiter verfolgen konnten.
Dielan lag noch immer dort, wo er gelegen hatte, als der Erdrutsch begann. Um ihn herum lagen Steine, aber keiner davon hatte ihn getroffen. Bran schloss die Augen und dankte den Namenlosen. Dann hob er seinen Speer auf.
»Wir müssen weiter. In dem Tal dort draußen gibt es sicher Wasser.«
Dielan antwortete nicht und rührte sich noch immer nicht.
Bran kniete sich neben ihn. Und da sah er das Blut in seinem Haar. Seine Augen brannten, als er die Finger an Dielans Hals legte. Der Puls war schwach, aber spürbar. Er drehte Dielan auf den Rücken und legte das Ohr an seinen Mund. Er atmete.
»Dielan!« Bran schlug ihm vorsichtig mit der flachen Hand auf die Wange. Dann zog er Dielans Oberkörper am Hemd hoch und schüttelte ihn sanft. Dabei rief er immer wieder seinen Namen, aber Dielan rührte sich nicht.
»Ich muss dich hier rausbringen.« Bran wischte sich über die Augen, ergriff Dielan unter den Armen und schleppte ihn zwischen den Steinen weg. Er stolperte, stand wieder auf und zog Dielan weiter hinter sich her. Der Boden war mit herausgebrochenen Steinen übersät, an deren scharfen Kanten Dielans Kleider zerrissen, als Bran ihn vorbeischleppte.
»So geht das nicht.« Bran legte Dielan auf den Boden. Seine Stimme hallte von den Felswänden wider. Er warf die Bögen und die Fellrolle auf den Boden. Was er jetzt brauchte, war ein Zugschlitten, wie sie ihn früher in der Felsenburg benutzt hatten, um verletzte Schafe aus den Bergen zu holen.
Bran entdeckte Dielans Speer unter einem Haufen Kies und kleiner Steine und legte ihn neben seinen. Dann löste er den Gürtel seines Bruders und band die Riemen auf, mit denen die Lederstrümpfe geschnürt waren. Mit den Bögen als Querverstrebungen knotete er aus den Waffen einen Rahmen. Danach rollte er das Fell auf und spannte es mit Hilfe der Trageriemen und Bogensehnen über den Rahmen. Am Ende legte er Dielan auf den Zugschlitten und band ihn mit seinem eigenen Gürtel fest. Die Nacht senkte sich über die Schlucht, als Bran die Speere hinter den Spitzen packte und den Schlitten hinter sich her zog.
Das letzte Stück der Schlucht wollte schier kein Ende nehmen. Bran zog den Schlitten über Kiesberge und um Felsblöcke und Steinhaufen herum. Er hob ihn über schroffe Steinbrocken und kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts. Als er endlich aus der tiefen Dunkelheit in das hohe Gras hinaustrat, brannte der Schmerz hinter seiner Stirn wie Feuer.
Vor ihm breitete sich eine riesige Ebene aus, so weit das Auge reichte. Er sackte auf der trockenen Erde zusammen. Das Gras war hart und raschelte unter seinen Händen.
»Cernunnos…« Er flüsterte den Namen, denn zu mehr fehlte ihm die Kraft. Hinter ihm erhob sich die Felswand aus der Ebene wie eine Mauer zwischen ihnen und dem Land, aus dem sie kamen.
Bran schleppte sich zu Dielans Trage. Er war nicht mehr in der Lage weiterzugehen. Der Durst brannte in seiner Kehle. Er fasste sich an die Stirn, aber nicht einmal die peinigenden Krallen vermochten ihm einen Tropfen Schweiß abzuringen.
Er blieb liegen und schaute zum Himmel empor. Direkt unter dem Nordstern zog eine Wolke vorbei. Er betete zu Cernunnos, sie über ihm abregnen zu lassen, obwohl er wusste, dass Der, der Hörner trägt, ein Kriegsgott war, der nicht die Macht besaß, es regnen zu lassen, aber Bran fiel kein Gott ein, der dafür zuständig war. Nicht einmal Kragg, der hoch oben am Himmel seine Flügel ausbreitete und die Juwelen in seinem Federkleid erstrahlen ließ, konnte ihnen noch helfen.
Die Menschen in Kajmen und die Nomaden, die das Felsenvolk kennen, sagen über sie, dass sie den Verstand von Pferden, aber Sinne wie Wölfe hätten. Und vielleicht war es wirklich so, denn mitten in der Nacht wurde Bran wach, weil er einen kühlen Windzug in der Luft spürte. Einen Geruch, von dem er anfangs nicht wusste, was es war. Bran kroch ein Stück von Dielan weg. Er schnupperte wie ein ausgehungerter Hund in die Luft, erhob sich mühsam und torkelte vorwärts. Der Wind hatte gedreht und kam jetzt vom Land. Und er brachte den Geruch von Wasser mit.
Bran stolperte über ein Grasbüschel, fing sich aber gleich wieder. Nicht weit von der Stelle entfernt, wo Dielan lag,
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