Das Verheissene Land
ihr hinüber und strich ihr die Haare aus der Stirn. Gewöhnlich drehte sie sich dann um und ließ ihn unter die Pelze kriechen. Doch jetzt blieb sie einfach liegen, als ob der Schlaf so schwer auf ihr lastete, dass sie nicht wach werden konnte, so dass sich Bran auf der anderen Seite der Feuerstelle unter seinem Schafsfellumhang zusammenrollte. Er schloss die Augen und lauschte ihrem Atem. Er war ruhig wie der Flügelschlag einer Möwe oder wie die ersten Schritte des Sommers an einem moosigen Bachufer. Er versuchte, wie sie zu atmen, denn er spürte den Wind, der an der Zeltplane zerrte und ihn mit aufs Meer hinausnahm. Und die Winde brachten die Träume mit sich, die Träume, die ihn sehen ließen. Er war nicht mehr im Zelt, er schwamm über das Meer. Die Wellen umgaben ihn wie spitze Klippen, und seine Arme schmerzten. Das Meer brüllte ihn an wie ein kriegslüsternes Heer. Zwischen den Wellen erblickte er einen Strand mit schwarzen Kieseln, doch er wollte nicht dorthin. Er suchte dort draußen nach etwas.
Zum Schluss zogen ihn die Strömungen nach unten, und er sank ins Dunkel. Er legte sich auf den Meeresboden und schlief dort ein.
Als er erwachte, war er nicht mehr im Meer. Er stand auf einem Gipfel, der alle anderen überragte, und unter ihm lag eine Kette von Bergen. Sie waren grau wie der Himmel. Am Fuß der Berge sah er Ebenen und einen Fluss, der ins Meer führte. Ein schwarzer Strand stemmte sich gegen die Wellen, und dort, auf den schwarzen Kieseln, stand sein Volk. Der Himmel war mächtig und brüllte über ihren Köpfen und die Menschen sahen voller Trauer zu Boden. Dielan kniete am Spülsaum. Vor seinen Füßen lag ein Mann und dieser Mann war von vielen Wunden gezeichnet und weinte.
Mit einem Mal wandten die Menschen sich von den Wellen ab. Dielan hob den weinenden Mann hoch und half ihm fort vom Meer ins Land hinein. Brans Volk wanderte über Hänge und Berge und fand ein Tal auf der anderen Seite der zerklüfteten Klippen. Dort ließen sie sich nieder und fanden unter den dicken Eichen Frieden. Sie sahen, dass es ein guter Ort war. Die Jahreszeiten gingen ineinander über und färbten das Tal mit Schnee und Blumen und rotem Laub. Und das Felsenvolk baute Häuser aus Stämmen und sammelte Holz für die Winter. Säuglinge wuchsen zu Jägern und Frauen heran, die selbst wieder Kinder bekamen.
Bran sah all das und es verwunderte ihn nicht, denn er wusste, dass das die Zukunft seines Volkes war. Er sah die Gesichter seiner Freunde faltig werden und ihre Bärte grau. Er sah Turvi zwischen den Bäumen umstürzen und sterben. Er sah Dielan und Gwen mit alten Augen an seinem Grab. Und an Dielans Seite der weinende Mann vom Strand. Auch er war jetzt älter, und sein Nacken war vor Scham oder Trauer gebeugt. Er wandte sich von ihnen ab und hinkte unsicher zwischen die Bäume. Er taumelte in eine Hütte und sank auf einem breiten Stuhl nieder. Dort hob er einen Weinschlauch vom Boden auf, löste den Gürtel unter seinem dicken Bauch und vergoss Wein und Tränen über sein Gesicht.
Bei diesem Traumbild wand sich Bran unter seinem Schafsfellumhang hin und her, und er fasste sich an den Kopf und stöhnte. Das waren die schmerzhaften Bilder, die ihn derart quälten, dass er sich nicht an sie zu erinnern vermochte, wenn er aufwachte. Jetzt entschwand das Tal, und auf einmal war er wieder in den Wellen. Das Meer war wild, und die Strömungen zerrten an seinen Beinen. Er schwamm zum Land, doch das Meer zog ihn immer wieder hinaus. Dann spürte er einen Arm an seiner Seite. Er wandte sich ihm zu, während die Gischt ihn wusch. Er umarmte den Körper der Frau und ließ seine Finger durch ihre Haare gleiten, die sich in den Wellen auffächerten. Und er blickte in ihre toten Augen, in denen sich das Meer spiegelte.
Stadt der Erinnerungen
V iele Tage waren verstrichen, seit Turvi das Felsenvolk zusammengerufen hatte.
Die letzten Schneeflecken waren längst geschmolzen, und das Gras am Berghang über der Stadt begann bereits zu sprießen. Dem abnehmenden Mond folgte der zunehmende Mond, und Bran hatte zu seinem Volk gesprochen und es aufgefordert, sich für die Reise bereitzuhalten. Jetzt stand er auf dem Langschiff und sah die Männer Felle und Tonnen an Bord tragen. Der Wind kam aus Osten und war warm, und das Felsenvolk wusste, dass die Zeit zum Weiterziehen gekommen war.
Bran legte seine Hände auf die Reling. Er stand am Achtersteven, weil er dort die beste Aussicht auf das Deck und den Hafen hatte. Die
Weitere Kostenlose Bücher