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Das verlassene Boot am Strand

Das verlassene Boot am Strand

Titel: Das verlassene Boot am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott O'Dell
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würdest. Warum willst du weg von der Mission?«
    »Ich würde nicht davonlaufen«, antwortete ich. »Ich würde die Mission verlassen, wenn ich das wollte.«
    »Gut, du würdest nicht davonlaufen, du würdest einfach fortgehen. Aber warum?«
    »Weil es mir hier in der Mission nicht gefällt«, antwortete ich aufrichtig. »Das wäre der Grund. «
    »Weil du hier schlecht behandelt wirst. Weil du den ganzen Tag schwer arbeiten mußt. Weil man dir immerzu befiehlt, was du zu tun und was du zu lassen hast. Weil Pater Merced ein Mensch mit seltsamen Ansichten über Indianer ist und glaubt, sie dürften keine Minute am Tag untätig sein.«
    Mir kam ein Verdacht. Daran hatte ich vorher noch nie gedacht. War vielleicht der Haß zwischen Pater Merced und Kapitän Cordova schuld an allem Unheil, das mir hier widerfahren war? War er die Ursache, warum ich hier ohne Kleidung und ausreichende Nahrung in einer Zelle eingesperrt war?
    »Ich kann nur eines wiederholen, Señor Capitán, ich bin hier. Ich bin nicht bei >Steinerner Hand< und seiner Gruppe.«
    Kapitän Cordova stand auf, ging zur Tür und öffnete sie, um etwas frische Luft hereinzulassen; sogar ihm wurde der Gestank der Zigarre zuviel. Er warf sie über die Klippen ins Meer hinunter. Er schloß die Tür und setzte sich wieder.
    »Der Gouverneur gibt schlechte Zigarren aus«, bemerkte er wie zu sich selbst. »Wahrscheinlich, weil er selbst nicht raucht und nichts von Zigarren versteht.« Er öffnete eine Schreibtischschublade und holte einen Gegenstand heraus, den ich sofort wiedererkannte.
    »Du hast ein paarmal deine Tante erwähnt«, fuhr er mit höflicher, sanfter Stimme fort. »Du hast mir ein paarmal versichert, daß du nichts mit den Ausbrechern zu tun hast. «
    Er hielt den Gegenstand hoch, drehte ihn hin und her und legte ihn dann vor sich auf den Schreibtisch.
    »Señora Gallegos hat auf meinen Wunsch den Schlafsaal der Mädchen durchsucht. « Er machte wieder eine Pause und sah mich an. »In deinem Bett unter den Decken hat sie diesen Schlüssel gefunden. Er paßt in das Schloß der Tür zum Schlafsaal der Mädchen, und er paßt in das Schloß der Tür zum Schlafsaal der Jungen. Und mit diesem Schlüssel sind beide Türen geöffnet worden, damit >Steinerne Hand< und die anderen fliehen konnten.«
    »Ich weiß, Señor Capitán. Denn ich habe die Türen aufgeschlossen«, sagte ich.
    Ich war nicht dazugekommen, den Schlüssel ins Meer zu werfen, wie ich das vorgehabt hatte.
    Kapitän Cordova legte den Schlüssel wieder in die Schublade. Dann rief er nach Señora Gomez, die kam und mich mit verschlafenem Gesicht in die Zelle führte. Sie sperrte die Tür gut zu.
     

21
     
    Señora Gomez ließ mir meine Kleidung und eine Decke, wie Kapitän Cordova ihr befohlen hatte, und so hatte ich es in dieser Nacht warm und konnte schlafen.
    Aber am Vormittag, als Kapitän Nidever in den Hafen segelte, trug ich wieder das Baumwollhemd.
    Ich sah das Boot schon, als es noch weit draußen nur ein Tupfen auf dem glänzenden Meer war; es hatte Rückenwind und kam gut voran. Dann konnte ich erkennen, daß vier Leute im Boot waren; ich sah Pater Vinzenz' rote Quaste im Wind flattern, und dann sah ich, daß die vierte Person eine Frau war.
    Ich stand vor dem Fensterspalt und hielt mich am Gitter fest. Zum ersten Mal seit vielen Tagen war mir warm. Ich vergaß, daß ich nur mit einem Baumwollhemd bekleidet und mit ungekämmtem Haar in eine Zelle gesperrt war.
    Das Boot näherte sich der Brandung, wo die Wellen sich brachen. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, und in ihrem hellen Licht konnte ich Karanas Gestalt ausmachen. Sie kauerte auf dem kleinen Deck, das Kapitän Nidever über die beiden Kanus gebaut hatte.
    Die Brandung schlug an diesem Morgen nicht hoch, aber Kapitän Nidever wartete auf die Pause zwischen den Wellen, die alle paar Minuten eintritt. Er wartete zu lange und verpaßte den richtigen Augenblick. Da richtete sich Karana auf, sprang aus dem Boot und schwamm auf das Ufer zu. Ein Hund folgte ihr.
    Zuerst dachte ich, sie sei ins Wasser gesprungen, damit das Boot leichter wurde und Kapitän Nidever es in der Brandung besser manövrieren konnte. Doch dann war ich sicher, es war aus Erregung geschehen.
    Das Festland, von dem sie so oft geträumt haben mußte, war endlich nahe. Sie hob die braunen Arme und schwamm mit kräftigen Zügen. Dann war sie durch die Brandung hindurch und watete an den Strand, die Arme ausgestreckt, als ob sie alles umarmen wollte, was sie sah.

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