Das verlassene Boot am Strand
Der Hund blieb hinter ihr.
Karana kam aus dem Wasser und blieb auf dem nassen Sand stehen; ihr Graskleid klebte an ihr. Sie schaute sich um, als ob sie alles auf einmal in sich aufnehmen wollte: die niedrigen Klippen, den langen, geschwungenen Strand, die grünen Hügel, die nun vom Klatschmohn rot gefleckt waren, die Kirche. Die Glocken läuteten, und Karana hielt still und lauschte.
Zwischen zwei Wellen kam nun das Boot heran. Karana wandte sich um, aber es schoß auf der Dünung an ihr vorbei und lief auf dem Strand auf.
Ich konnte kaum mit dem Arm durch die Gitterstäbe, aber ich winkte, so gut es ging. Karana bemerkte mich nicht. Da rief ich ihren Namen so laut, daß Señora Gomez aus ihrem Zimmer kam und befahl, still zu sein. In der Nähe meines Zellenfensters führte ein Pfad vom Strand herauf. Pater Vinzenz ging mit unsicheren Schritten, als ob er noch auf hoher See wäre. Er sah meine Hand aus dem Fenster winken und blieb stehen, als ich seinen Namen rief. Er sagte zu Karana kein Wort, aber beide kamen den Pfad herauf und blieben vor dem vergitterten Fenster stehen.
»Was ist passiert?« sagte Pater Vinzenz und starrte mich an, als ob er seinen Augen nicht traute.
Ich erzählte es ihm, so rasch es ging. Er ging schnurstracks zu Kapitän Cordovas Büro hinüber, und ich hörte beide brüllen.
Karana stand da und schaute mich durch das Gitter an. Sie mußte mich sofort erkannt haben, denn ich sah ihrer Schwester sehr ähnlich. Sie nahm meine Hand und hielt sie einen Augenblick fest. Ihre Hand war hart und rauh, und die Fingernägel waren abgebrochen. Ich drückte mein Gesicht an das Gitter, Karana tat das gleiche, und wir küßten uns zwischen den Stäben hindurch.
Ich sprach sie in Spanisch an, aber sie schüttelte den Kopf, um mir zu zeigen, daß sie mich nicht verstand. Ich erinnerte mich an ein paar Worte aus einem Lied, das meine Mutter mir als Kind vorgesungen hatte, aber auch wenn Karana die Worte verstand, so ergaben sie doch wenig Sinn. Dann sprach sie mit mir, und auch ihre Worte waren für meine Ohren fremd und unverständlich. Wir standen hilflos da, hielten uns an der Hand und betrachteten einander. Karana sah aus wie meine Mutter, wie ich sie in Erinnerung hatte.
Ich hörte Kapitän Cordova schimpfen. Zwischendurch hörte ich auch Pater Vinzenz. Die Debatte dauerte sehr lange. Dann kam Pater Vinzenz mit Señora Gomez, und sie öffnete meine Zellentür und warf meine Kleider auf den Boden.
Ich zog mich an, und dann gingen wir den Pfad zur Mission hinauf, der Hund dicht neben Karana. Er war groß und zottig und sah wie ein Wolf aus. Ich wollte ihn streicheln, aber er wich meiner Hand aus.
Neben dem Pfad wuchsen viele Wiesenblumen, vor allem eine, die einem Dorn mit blauen Blüten glich. Karana pflückte zwei davon und gab eine Pater Vinzenz und die andere mir.
22
Karana bekam in dem großen Mädchen-Schlafsaal das Bett neben mir. Sie war nicht daran gewöhnt, in einem Bett zu schlafen, und irgendwann im Laufe der Nacht stand sie auf und legte sich auf den Boden. Ihr Hund, den sie Rontu-Aru nannte, lag neben ihr.
Señora Gallegos war es nicht recht, daß Karana auf dem Boden schlief. Sie war auch nicht damit einverstanden, daß der Hund über Nacht im Schlafsaal blieb. Vor allem damit nicht.
»Hunde gehören nicht ins Haus. Sie haben Flöhe, und wir werden sie auch noch kriegen«, schimpfte Señora Gallegos. Sie beklagte sich bei Pater Vinzenz über den Hund.
Aber er schien ihre Meinung nicht zu teilen, denn in der nächsten Nacht schlief Karana wieder auf dem Boden, und Rontu-Aru neben ihr.
Da wandte sich Señora Gallegos an Pater Merced, der Pater Vinzenz' Vorgesetzter war. Seit dem Tag, an dem mich Kapitän Cordova auf die Garnison geschleppt hatte, lag Pater Merced krank im Bett, und wir beteten für ihn, damit er bald wieder gesund werde. Er stimmte mit Pater Vinzenz nicht überein, und Señora Gallegos erklärte Karana, daß sie weiter auf dem harten Boden schlafen durfte, der Hund aber hinaus in den Hof zu den anderen Hunden mußte.
Karana verstand kein Wort, und ich konnte es ihr auch nicht erklären. Am Abend legte sie sich wieder neben ihrem Hund auf den Boden, und als Señora Gallegos Rontu-Aru verjagen wollte, knurrte er sie an und fletschte die Zähne. Die Señora holte den mayordomo , er brachte einige Männer mit, und allen zusammen gelang es schließlich, den Hund zu fesseln und hinauszuzerren.
Karana sagte die ganze Zeit über nichts. Schließlich nahm sie
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