Das verlassene Boot am Strand
ihre Decke und ging auch hinaus. In dieser Nacht und den folgenden Nächten schlief sie auf dem Boden im Freien, Rontu-Aru neben sich.
Karana und ich hatten Mühe, uns miteinander zu verständigen. Wir versuchten es mit Gesten und mit Lauten, die nur für uns einen Sinn ergaben.
Alle fünf Patres sprachen mehrere Indianerdialekte, und in der Mission gab es Menschen aus den verschiedensten Stämmen, aber niemand konnte Karanas Sprache verstehen. Ich auch nicht, obwohl ich doch dem gleichen Stamm wie Karana angehörte. Früher, als ich noch sehr klein war, sprach meine Mutter, obwohl wir bei den Cupeños lebten, noch manchmal im Dialekt ihres Stammes mit mir. Als sie gestorben war, vergaß ich das Wenige, was ich von ihr gelernt hatte, weil ich nur noch die Sprache der Cupeños hörte. Und als ich in die Mission zu den spanischen Patres kam, mußte ich mich an Spanisch gewöhnen.
So lebten Karana und ich ohne Worte und verständigten uns durch die Berührung unserer Hände und den Klang unserer Stimmen. Wir versuchten, den Dingen einen Namen zu geben.
Ich hob am Strand eine Muschel auf und sagte den Namen dafür. Am Anfang versuchte Karana, das Wort zu wiederholen, aber nach einer Weile gab sie es auf.
Sie staunte, wie viele Muscheln es hier am Strand gab, es mußten viel mehr sein als auf der Insel der blauen Delphine. Karana hielt gerne Muscheln in den Händen. Sie spielte damit und sammelte sie ein. Die großen Muscheln hielt Karana ans Ohr, sie lauschte und gab dann einen Laut von sich, der Überraschung oder Freude bedeuten mußte.
Am meisten liebte Karana aber die wilden Pferde.
Sie kamen bei Tagesanbruch und manchmal auch in der Abenddämmerung von den Bergen herab, ganze Herden, Hengste und Stuten mit ihren ungebärdigen Fohlen. Sie galoppierten am Strand entlang und durch die Wellen, und Karana schien ihr Schnauben und Wiehern zu verstehen. Sie wurde niemals müde, ihnen zuzuschauèn. Rontu-Aru ging es genauso. Eines der wenigen Worte, die Karana von mir lernte, war »Pferd«.
Aber als Pater Vinzenz ihr einmal vorschlug, einen Wallach aus dem Stall der Mission zu reiten, schüttelte Karana den Kopf und wich zurück. Ich stieg auf und lenkte das Pferd im Hof im Kreis herum, um ihr zu zeigen, wie einfach das war, aber sie schüttelte wieder den Kopf.
Auch das Melonenfeld hinter dem Hügel gefiel Karana. Die Ranken waren von sattem Grün und streckten zarte, dünne Sprößlinge aus. Wir gingen jeden Tag hin.
Ich versuchte, Karana mit Gesten zu erklären, daß Melonen so groß und rund wie mein Kopf wurden. Das verstand sie. Viel schwieriger war es, zu erklären, wie eine Melone innen ausschaute.
Karana bekam die erste Melone, die reif wurde. Es war eine große Melone, und Karana aß sie ganz auf. Sie schmeckte ihr viel besser als das übrige Essen in der Mission. Manchmal aß Karana eine ganze Melone zum Abendbrot, und manchmal sogar zwei.
Auch die Arbeit am Webrahmen machte Karana gern. Sie hatte noch nie zuvor einen Webrahmen gesehen, aber nach einer Woche konnte sie damit genauso gut umgehen wie die anderen. Als erstes webte sie einen Umhang für mich mit einem Delphin auf dem Rücken. Sie war stolz auf diesen Umhang, deshalb trug ich ihn jeden Tag, auch wenn das Wetter heiß war.
Ich tat alles, was ich nur konnte, um Karana glücklich zu machen.
Als es keine Frühmelonen mehr gab, ging Karana mittags oft hinunter an den Strand, grub ein paar große Muscheln aus und briet sie in einer Mulde im Sand an einem Feuer aus trockenem Seetang.
Karana mochte die Wildpferde, die Muscheln, die Melonen und den Webrahmen, aber am liebsten lief sie allein mit ihrem Hund am Strand entlang.
Ich hätte gerne gewußt, wie die Insel der blauen Delphine war, und wie Karana dort all die Jahre gelebt hatte, aber ich erfuhr es nie.
23
Pater Merceds Zustand verschlechterte sich plötzlich. Als er dann starb, herrschte bei allen große Trauer, denn er lebte schon seit einunddreißig Jahren in der Mission und kannte alle Leute meilenweit im Umkreis.
Die Patres in Mexico City, die über solche Dinge zu bestimmen hatten, ernannten Pater Vinzenz vorübergehend zum Oberen der Mission, bis sie einen anderen Pater schicken konnten. Sie meinten, Pater Vinzenz sei noch zu jung, um eine so große Mission wie Santa Barbara zu leiten.
Während der wenigen Wochen, in denen Pater Vinzenz unser Pater Superior war, ereigneten sich einige wichtige Dinge.
Als erstes bekam ich mein Armband wieder, das Señora Gomez mir
Weitere Kostenlose Bücher