Das verlassene Boot am Strand
sehr früh, und wieder fragte sie mich durch die geschlossene Tür, ob ich gut geschlafen hätte. Sie sagte genau das gleiche Sprüchlein auf wie am Tag zuvor, und auch meine Antworten blieben gleich. Etwas später brachte sie mir Tortillas und Wasser.
Am Nachmittag wärmte die Sonne wieder meine Zelle. Auf dem Walfänger wurde immer noch Walfett ausgekocht, und der Rauch zog immer noch bis in meine Zelle. Aber heute spielten keine Delphine zwischen den beiden Inseln, keine Wale ließen ihre Fontänen aufsteigen, und ich raffte all meine Kräfte für die Nacht zusammen.
19
Am Nachmittag brachte Señora Gomez mir meine Kleider und befahl mir, mich anzuziehen.
Sie führte mich in Kapitän Cordovas Büro, das ein Dutzend Mal so groß wie meine Zelle war und viele Fenster mit roten Vorhängen hatte. Von der Decke hing eine große Lampe, in der sicher hundert Kerzen steckten, und sie brannten alle.
Kapitän Cordova saß an einem Schreibtisch und hinter ihm an der Wand hingen bündelweise Musketen, Lanzen und Säbel, und auch etwas, das wie ein eiserner Handschuh aussah. Der Kapitän schien schlechter Laune zu sein. Diesmal sprach er mich nicht höflich als Señorita an. Ich schloß daraus, daß seine Soldaten »Steinerne Hand« noch nicht gefunden hatten.
»Als wir uns vor ein paar Tagen miteinander unterhalten haben, da habe ich dich gefragt, ob du uns vielleicht irgendwie behilflich sein könntest«, begann er. »Ich habe dir und dem guten Pater, der allmählich ein bißchen schwach im Kopf wird, erklärt, daß alles, was in der Mission passiert, seine Angelegenheit ist. Und daß alles, was außerhalb der Mission passiert, zum Beispiel auf den Ländereien, die Männern wie Señor Corrientes und Señor Moreno gehören, meine Angelegenheit ist. Erinnerst du dich?«
»Ja!«
»Erinnerst du dich auch, daß ich dich gefragt habe, ob du weißt, wo >Steinerne Hand< sich versteckt?«
»Ja!«
»Und du hast mir auf meine Frage keine Antwort gegeben. Du hast nur den Kopf geschüttelt. Weißt du, wo sich die Indianer verstecken?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Sie haben dir nicht gesagt, wohin sie wollen?«
»>Steinerne Hand< hat gesagt, er würde mir später eine Nachricht schicken.« Ich sagte wieder die Wahrheit.
»Und diese Nachricht hast du nicht erhalten?«
»Nein, Señor.«
»Rechnest du damit, daß du eine Nachricht bekommst?«
»Es ist möglich.«
»Möglich ist alles. Wirst du eine Nachricht von den Indianern erhalten? Ja oder nein?«
»Es ist möglich«, wiederholte ich. »Mehr weiß ich nicht.«
Kapitän Cordova rieb sich die Nase, die lang und dünn und ein bißchen krumm war; oder sein Gesicht war krumm, eines von beiden.
»Ich habe mit der Aufseherin in der Mission gesprochen. Mit Señora, Señora...«
»Señora Gallegos.«
»Ja, mit Señora Gallegos. Und sie hat gesagt, daß die Türen zu den Schlafsälen zugesperrt waren. Sie hat gesagt, daß sie gerade an dem Abend besonders sorgsam darauf geachtet habe, die Türen ordentlich abzuschließen, weil sie gehört habe, daß sich einige Indianer beklagt und Drohungen ausgestoßen hätten.«
Kapitän Cordova stand auf, trat an ein Fenster und zog den Vorhang zu, weil ihn die Sonne blendete. Er begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Er kam zu den Musketen und Lanzen und Säbeln und nahm den eisernen Handschuh von der Wand. Er zog ihn an. Dann legte er ihn auf seinen Schreibtisch, setzte sich wieder und zündete sich eine Zigarre an, die ärger stank als der Rauch von den Walkesseln.
»Ein alter Mann hat mir gesagt, daß in der Werkstatt etwas Eisen fehlt. Und zwar von der Sorte Eisen, aus der man Schlüssel fertigt. Hältst du es für möglich, daß >Steinerne Hand< sich vielleicht Señora Gallegos Schlüssel beschafft und dann in der Werkstatt einen Nachschlüssel gemacht hat? Einen Schlüssel, der ganz genauso aussah und genauso in die Türschlösser paßte, wie der der Señora? Glaubst du, daß er zu so etwas in der Lage war?«
»Warum nicht? Er ist klug«, sagte ich.
»Er ist klug, also machte er sich einen Schlüssel, und der Schlüssel paßte«, fuhr Kapitän Cordova fort. »Aber die Tür zum Schlafsaal der Jungen läßt sich nur von außen aufsperren. Also muß er den Schlüssel einem der Mädchen gegeben haben.«
Der Kapitän klopfte sorgsam die Asche von seiner Zigarre und warf mir einen lauernden Blick zu. Ich stand vor seinem Schreibtisch, war verlegen und hatte Angst.
»Hat er diesen Schlüssel
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