Das verletzte Gesicht
niemand gesagt? War es für jede Frau so? Oder war das eine besondere Strafe für sie? Sie konnte niemanden fragen.
Plötzlich spürte sie den starken Drang zu pressen. Sie rief auf Polnisch: „Mein Baby kommt! Beeilt euch. Es kommt!“
Drei Leute in weißen Kitteln umringten sie und gaben Anweisungen, die sie nicht verstand. Sie biss die Zähne zusammen und presste, bis der Atem aus ihr wich und kleine graue Punkte ihr die Sicht nahmen. Wieder und wieder. „Fridrych!“ schrie sie.
Plötzlich hörte der Schmerz auf, und über dem Stimmengewirr hörte sie ihr Kind schreien. Sie wollte sich auf den Ellbogen abstützen, rutschte jedoch erschöpft zurück. Tränen der Freude kamen ihr, als sie die Leute im weißen Kittel sich über das Neugeborene beugen und aufgeregt reden sah. Sie schienen sich gar nicht beruhigen zu können über das Baby. Schließlich legten sie ihr das kleine Bündel in den Arm. Ihr stockte der Atem beim Anblick der Kleinen in der rosa Decke. Die Haut war rotfleckig, und die großen blauen Augen blinzelten verwundert in die Welt. Doch etwas stimmte nicht. Ihr Blick fiel auf Kiefer und Kinnpartie. Sie waren kaum ausgebildet und verliefen extrem fliehend zum Hals.
Sie warf den Schwestern am Bett einen fragenden Blick zu und las Mitgefühl in ihren Mienen. Ohne ein weiteres Wort verstand sie, dass ihr Kind eine Anomalie hatte. Wie eine Wahnsinnige riss sie die Decke auf, um zu prüfen, ob der Rest des Kindes in Ordnung war. Der Kälte ausgesetzt, schrie und strampelte die Kleine protestierend. Helena verschlang sie geradezu mit Blicken. Alles war normal, zehn Finger, zehn Zehen, und es war ein Mädchen.
Sie sah wieder auf das deformierte Kinn. Das würde sich nicht auswachsen wie die kleinen Falten in dem winzigen Gesicht oder die gedrückte Nase, die vermutlich wie Fridrychs werden würde.
Helena wandte den Kopf ab und weinte leise. Gott hatte ihr also nicht vergeben. Sie hasste die Schwestern, die ihr mitfühlend den Arm tätschelten und Trostworte murmelten. Warum ließ man sie nicht in Ruhe? Verstanden die denn nicht? Das hier war ihre Strafe, das Kreuz, das sie zu tragen hatte. Ihr Schmerz nährte sich nicht nur aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Resigniert nahm sie ihr Schicksal an. Ein Trost war immerhin, dass sie durch Fridrychs Kind nicht mehr allein war.
Zwanzig Jahre später saß Helena nun wieder in einem Krankenzimmer und betrachtete das Gesicht ihrer Tochter. Das neue Gesicht, das einer Fremden, ein Trugbild. Ihr tat das Herz weh.
Wo ist Fridrych, fragte sie sich. Die Narben waren geschickt verborgen und würden bald nicht mehr sichtbar sein. Niemand würde noch erkennen, welcher Betrug hier vonstatten ging. Unnatürlich! Fridrychs Nase … es war nichts mehr von ihr da.
Jetzt, dachte sie bitter, bin ich wirklich allein.
In Kalifornien brannte Michael die Frühlingssonne in den Nacken, während er die zweiundzwanzig Männer sah, die die Mondragons für die neue Saison eingestellt hatten. Es waren hauptsächlich Amerikaner zwischen zwanzig bis fünfzig. Die meisten verheiratet mit Kindern. Von ihnen getrennt durch Sprache und auf eigenen Wunsch hockte eine Gruppe Mexikaner beisammen. Die kamen jeden Frühling speziell zu Luis, um hier zu arbeiten, und reisten immer zusammen in einem altersschwachen, stinkenden LKW an.
Michael wusste, dass einige Männer in diesem Geschäft erfahrener waren als er selbst. Sie arbeiteten bereits für seinen Vater, so lange er denken konnte. Ein paar Neulinge mussten noch eingearbeitet werden, wie Cisco, sein Neffe. Er war erst neun und machte auf Michaels Einladung hin mit, für gutes Geld. Luis freute es, eine weitere Generation im Geschäft zu sehen.
Jung oder alt, erfahren oder nicht, Einheimischer oder Fremder, das spielte keine Rolle. Wer anständig arbeitete, bekam anständigen Lohn. Das hatten alle begriffen, als Michael ihnen die neuen Pläne und die damit verbundenen Änderungen erläuterte. Ebenso begriffen alle, dass er jetzt das Sagen hatte.
Während Michael redete, sah er, wie Bobby seine Worte der abseits stehenden Gruppe von Mexikanern übersetzte. Sie lauschten Bobby, sahen jedoch ihn an. Er bedauerte, dass er die Sprache seiner Familie nicht mehr gut genug beherrschte, die Ansprache auf Spanisch zu wiederholen.
„War gut, was du gesagt hast“, gratulierte ihm sein Vater, als er fertig war und die Mannschaft sich entfernt hatte. „Du bist jetzt
el patron
.“ Sein Gesicht war gerötet vor Freude und Stolz. „Aber
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