Das verletzte Gesicht
viele blaue Flecke.“
Manuels Miene verfinsterte sich, doch er schwieg.
„Ich weiß, du denkst vielleicht, es geht mich nichts an, aber es geht mich etwas an. Ich will nie wieder blaue Flecke an dem Jungen oder an Maria Elena entdecken. Falls doch, ziehe ich dich zur Rechenschaft.“
Manuels Gesicht lief rot an vor unterdrücktem Zorn.
„Manuel, ich weiß, die Kinder brauchen Disziplin. Wenn es denn sein muss, gib ihnen einen Klaps auf den Hintern. Aber sie mit Gürteln und Ähnlichem zu schlagen ist das Werk von Feiglingen.“
Manuels Miene war hart, doch er blieb stumm. Schließlich nickte er knapp, öffnete die Wagentür und stieg ein. Michael trat zurück, da Kies und Erde aufspritzten, als der Wagen davonfuhr. Er sah ihm nach, bis die Lichter in der Zufahrt verschwanden.
Bobby kam näher, seine Schritte knirschten auf dem Kies. „Worum ging’s?“
„Ach, ich habe nur versucht, ein Verhaltensmuster zu ändern.“
„Apropos … Rosa hat mir erzählt, was du vorhin zu Papa gesagt hast.“ Er blickte in die Dunkelheit und räusperte sich. „Danke,
hermano
.“
„Nichts zu danken.“
„Ach, Michael, hör dir bloß an, wie förmlich wir daherreden. Bei dir kann ich das ja verstehen, aber was ist aus mir geworden? Ich werde ja schon so stoisch wie du!“
Förmlich bedeutete in der mexikanischen Kultur, ruhig und gesetzt zu sein. Frauen durften temperamentvoll und schwatzhaft sein. Männer durften Geschichten erzählen und lachen, waren aber niemals schwatzhaft. Sie waren förmlich und gaben Acht auf ihre Wortwahl.
„Du verstehst das völlig falsch“, erwiderte Michael humorvoll. „Ich spreche nur nicht so fließend Spanisch wie ihr.“
Bobby kicherte, und beide wussten, das stimmte nicht. Sein Spanisch war durch ständige Übung in den letzten zweieinhalb Jahren wesentlich besser geworden.
„Scheinbar haben sie dir in deinem feinen College ja doch was beigebracht. Rosa sagte mir, du hast heute Abend Blake zitiert.“
„Das hat sie dir erzählt?“
Bobbys Augen blitzten fröhlich. „Papa hat mich beiseite genommen und gefragt, was du mit diesem Zitat gemeint hast. Ich habe fast laut losgelacht. Aber stattdessen erwiderte ich, ich wüsste es nicht, und das hat er leider sofort geglaubt.“
Er lachte herzhaft, und Michael stimmte ein. Dann breitete er theatralisch die Arme aus und zitierte: „
Der Seele Fenster bleibt versperrt, dass alle Himmel es verzerrt, und lässt euch einer Lüge glauben, seht ihr mit, nicht durch die Augen.“
Nach einer Pause fügte Bobby ernst hinzu: „Wenn ich das lese, muss ich immer an Papa denken.“
„Bobby, es tut mir Leid.“
„Was, dass Papa und ich uns entfremdet haben?“
„Nein, dass wir uns entfremdet haben.“
„He, ist nicht deine Schuld.“
„Wessen dann? Es ist meine Schuld, und ich bedaure es. Ich hätte mich schon längst entschuldigen sollen, aber du musst zugeben, dass du es mir nicht leicht gemacht hast.“ Er senkte den Kopf und stieß die Schuhspitze in den Kies. „Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Ich kam mir vor, als hätte ich dich irgendwie im Stich gelassen. Mir kamen verrückte Gedanken wie, ich hätte mehr mit dir zusammen sein oder dich mit Mädchen verkuppeln sollen.“ Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.
„Michael“, begann Bobby, legte den Kopf zurück und atmete tief durch. „Miguel, wir waren schon in der Jugend verschieden. Als du von Mädchen geträumt hast, träumte ich von Jungs.“
Schweigend sah Michael die Wolken vor dem Mond vorüberziehen und erklärte nach einem Moment: „Mama sagte heute Abend, dass du so bist, wie du immer warst. Und irgendwie stimmt das. Ich weiß nicht, warum deine Homosexualität so schwer für mich zu akzeptieren war. Aber du sollst wissen, ich akzeptiere sie. Es ändert nichts. Du bist mein Bruder, und ich liebe dich.“
Er sah Bobbys Rührung und umarmte ihn fest. Sie waren durch gemeinsame Erinnerungen und denselben Namen verbunden. Was machte es da schon aus, von wem man träumte?
„Du jedenfalls solltest von Charlotte träumen“, sagte Bobby, als er sich, glücklich über die Versöhnung, von ihm löste.
Michael dachte an den sentimentalen Abschied von Charlotte am Flughafen. „Träume sind wirklich alles, was mir im Moment bleibt. Sie ist weg. Es ist ihr zweiter Film, eine historische Geschichte.
Ein Tag im Herbst
. Im letzten Film hatte sie nur eine Nebenrolle, aber das hier ist eine Hauptrolle, da kommt ihr Talent voll zur Geltung. Sie war ganz
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