Das verletzte Gesicht
zwischen Kalifornien und Chicago zu treffen.“
„Du willst weg?“ fragte Bobby. „Nach Chicago? Wann hast du denn das beschlossen? Ich dachte … na ja, wir alle dachten, du würdest bleiben.“
Michael straffte sich und sah seinen Bruder verwundert an. „Bleiben? Hier? Ich wüsste nicht, warum. Ich habe von Anfang an klar gesagt, dass ich maximal zwei Jahre bleibe. In wenigen Wochen ist die dritte Saison vorbei. Ich habe mein Versprechen mehr als erfüllt.“
Er dachte an das Telefonat mit seinem Kollegen in Chicago. Todd hatte ihn ganz heiß gemacht auf den neuen Großauftrag.
„Mein Architekturbüro hat einen Aufrag für ein neues Wohnprojekt im Gebiet von River North“, erklärte er. „Eine riesige Sache, und sie wollen mich dabeihaben.“ Seine Augen strahlten vor Begeisterung. „Das konnte ich nicht ablehnen. Ich bleibe noch über Weihnachten. Vielleicht aber auch nicht, je nachdem, wie Papa reagiert.“
Bobby schwieg, und Michael wunderte sich über seine besorgte Miene. „Was ist? Es kann dir doch nicht Leid tun, dass ich abreise. Du bist im Winter sowieso kaum hier. Und Rosa … Ha, sie zählt die Tage, bis ich weg bin.“
Bobby ließ die Bierflasche zwischen zwei Fingern baumeln. „Ich hatte gehofft, du würdest bleiben. Ich habe dich gern als Boss. Ich … ich wollte schon anfragen, ob du mich auch über die Winterzeit anheuerst.“
Michael zog verwundert die Brauen hoch. „Für den Winter? Du hältst es doch schon im Sommer kaum hier aus, geschweige denn im Winter. Und im Sommer arbeitest du auch nur wegen des zusätzlichen Geldes. Was ist los? Keine Wandmalereien mehr?“
Bobby lächelte traurig. „Kannst du noch mehr Geheimnisse verkraften?“
Michael wurde unbehaglich zu Mute. „Habe ich eine Wahl?“
„Ja, hast du.“
Eigentlich wollte er keine Geheimnisse mehr hören, doch er spürte Bobbys Kummer und kam näher. „
Dígame, Roberto“
, forderte er ihn in ihrer Muttersprache auf.
Bobby nahm seinen Mut zusammen. „Ich bin HIV-positiv.“
Michael war wie benommen. Vielleicht fühlte man sich so, wenn man von einer Kugel getroffen wurde: ein Schlag, ein Brennen, Schock.
„Aids“, wiederholte er. „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, was das heutzutage bedeutet.“ Er sah auf seine Hände.
„He, lass uns nicht so tun, als wäre es die Grippe. Was ich mir eingefangen habe, bekommt man nicht durch Schnupfen oder Husten. Oder hast du je erlebt, dass die Grippe gesunde junge Männer zum Skelett abmagern und dahinsiechen lässt?“
„Du hast Aids“, wiederholte Michael, ohne auf Bobbys Scherz einzugehen. Er wollte das richtig verstehen. „Aber du hast noch keine Symptome.“
„Doch, habe ich.“
Michael atmete langsam aus mit dem Gefühl, ein Teil seines Herzens sterbe ab. „Ich habe es irgendwie geahnt“, gestand er traurig, „aber gehofft, ich würde mich irren.“
Bobbys Verfall in den letzten Monaten war unübersehbar gewesen. Sein Haar war dünn geworden, er war kurzatmig, und die Mutter riet ihm ständig, mehr zu essen. Über den Sommer war Bobby um Jahre gealtert.
„Da draußen grassiert eine Seuche, Michael. Mein Partner starb letzten Frühling. Viele Freunde sind bereits tot. Leute, die ich von Partys kannte, verschwanden einfach. Ich redete mir ein, sie seien fortgezogen, aber ich weiß, es gibt sie nicht mehr.“
Michael unterdrückte die aufsteigende Panik. „Aber ich habe von neuen Therapien gehört. Von Forschung.“
„Ja, gut, es gibt experimentelle Behandlungen und Gerüchte über Wunderkuren.“
„Dann machen wir sie. Wir versuchen alles. Geld spielt keine Rolle.“
Bobby lächelte schwach und nahm das Wir dankbar zur Kenntnis. „Ich brauchte eine Weile zu akzeptieren, dass Aids nicht zwangsweise ein sofortiges Todesurteil bedeutet. Ich habe Freunde, die verschiedene Medikationen versuchen und händeweise Pillen schlucken, die bei ihnen nicht anschlagen. Sie werden immer kränker und haben Angst, dass sie nicht überleben. Bei mir ist das anders, ich habe Angst, dass ich überlebe.“
Michael atmete nur tief durch, unfähig, etwas zu erwidern. Er hatte keine Erfahrung mit dieser Art von Schmerz und Angst. Was wusste er als normaler Mann schon von den Sorgen und Nöten eines aidskranken Homosexuellen? Er merkte plötzlich, wie wenig er über Bobby und sein Leben wusste.
„Wie hieß er?“ fragte er. „Dein Partner?“
„Scott“, erwiderte er leise. „Und danke, dass du fragst.“ Er räusperte sich. Als er wieder sprach, war
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