Das verletzte Gesicht
Hände vors Gesicht. „Für was soll ich noch leben? Mein Leben war eine Serie zerbrochener Beziehungen und bedeutungsloser sexueller Kontakte.“ Sie wischte sich schniefend die Augen und lächelte verzagt. „Du bist der einzige Lichtblick, Charlotte. Du sagst, dass ich deine beste Freundin bin. Die Wahrheit ist, du bist die einzige richtige Freundin, die ich je hatte.“
Sie umarmten sich weinend und fühlten sich so eng verbunden wie Schwestern. Charlotte dachte an Dr. Harmons Warnung, niemandem von ihrer Schönheitsoperation zu erzählen. Sie wusste, wenn etwas über ihre Verwandlung herauskam, war ihre Karriere vorbei, ehe sie richtig begonnen hatte. Freddy würde sie sofort fallen lassen. Und Michael?
Er saß nebenan und wartete auf sie. Die Ironie ihres Dilemmas war quälend. Konnte sie Melanie die Wahrheit sagen und Michael weiter täuschen? Betrug war als Rolle schwer zu spielen. Sie schwor sich, ihm heute Nacht die Wahrheit zu sagen. Nachdem sie sich geliebt hatten, würde sie in Michaels Armen reinen Tisch machen.
Aber zuerst zu Melanie, die mit geschwollenen Augen verzweifelt ihr Papiertaschentuch zerpflückte. Charlotte sah keine andere Möglichkeit, als das Risiko einzugehen. Die innere Stimme ignorierend, die sie zu schweigen mahnte, setzte sie sich im Schneidersitz auf die Matratze und atmete tief durch.
„Melanie, ich möchte dir etwas über mich erzählen …“
Stunden später deckte Charlotte Melanie warm zu, dimmte das Licht und verließ mit zusätzlichen Decken aus der Kommode das Zimmer.
Michael schlief ausgestreckt auf der Couch, ihr Drehbuch in der Hand. Er sah so gut aus, dass ihr Herz überquoll vor Liebe. Machte ihre Liebe ihn noch attraktiver? Das Haar fiel ihm ins Gesicht und betonte die sinnlich geschwungenen Lippen. Seufzend lehnte sie sich gegen die Tür und hätte gern seine Arme um sich gespürt.
In seiner Umarmung fühlte sie sich geborgen und sicher. Das brauchte sie dringend, so erschöpft, wie sie war. In wenigen Stunden, wenn die Morgendämmerung anbrach, musste sie sich jedoch am Drehort einfinden und ein paar Szenen mit Melanies Ersatz nachdrehen … außerdem stand ihr die Liebesszene mit Brad Sommers bevor. So gern sie die Tür verriegelt, den Telefonstecker herausgezogen und sich zu Michael aufs Sofa gelegt hätte, es ging nicht.
Sie schloss die Augen, vor Müdigkeit und unter der Last ihrer Pflichten schwankend. Ihre Karriere ging vor. George würde ihr nie verzeihen, wenn er nicht morgen die restlichen Szenen in den Kasten bekam.
Müde ging sie zu Michael, nahm ihm das Drehbuch aus der Hand und breitete die Decke über ihn. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, küsste ihm sanft die Wange und verweilte einen Moment, den Geruch seiner Haut aufzunehmen und seinen Atem zu spüren. Gähnend, aber mit der tröstlichen Gewissheit, zwei Menschen im Leben zu haben, denen sie wichtig war – ihrer besten Freundin und ihrem geliebten Michael –, rollte sie sich, in die letzte Decke gekuschelt, im Ohrensessel zusammen und schlief ein.
In dieser Nacht träumte sie von ihrer Mutter. Und als am Morgen der Weckruf kam, damit sie ihre Arbeit begann, waren ihre Wangen feucht von Tränen.
Etwas abseits vom Set stehend, beobachtete Michael am nächsten Morgen Männer und Frauen bei den Vorarbeiten für die Liebesszene. Charlotte lag im Himmelbett, offenbar im Zimmer des reichen jungen College-Studenten, gespielt von Brad Sommers. Die Filmcrew war deutlich ausgedünnt. Alle, die nicht unbedingt dabei sein mussten, waren auf Charlottes Wunsch hin vom Set entfernt worden. Sie war keine Exhibitionistin, und diese Liebesszene machte sie nervös.
„Ich werde nicht nackt sein“, hatte sie Michael versichert, als er darauf bestanden hatte, am Drehtag dabei zu sein. „Aber wird es dir nichts ausmachen, es anzusehen?“
Es war wohl eher eine seltsame Neugier, gepaart mit einem deutlichen Besitzanspruch, die ihn bewogen, hier auszuharren. Er hatte das Drehbuch gelesen und ahnte, wie schwer es ihm fallen würde zuzuschauen.
Er stand jedoch niemandem im Weg, und allein die Vorbereitungen für die Szene zu verfolgen war lohnenswert. Der Regisseur war auf achtzig und schimpfte, mit seiner Kappe wedelnd, während das Team alles Notwendige aufbaute. Eine Kaltfront war herangezogen, und es drohte früher Schneefall. Sie mussten sich beeilen. Zwei Szenen wurden heute nachgedreht, die Wiederholungen mit Melanies Ersatz. Aber zuerst kam die Liebesszene. George wollte alles fertig haben,
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