Das Verlies der Stuerme
dich aus, bis es dunkel ist. Dann wirst du abgeholt.«
Jetzt war es schon eine ganze Weile dunkel, und Ben versuchte sich einzureden, dass er ja kein echter Verräter war, dass er nur überleben wollte, bis sich eine Möglichkeit zur Flucht ergab. Oder dass seine Freunde ihn bestimmt irgendwann befreien würden. Irgendwann mussten sie herausfinden, wo er steckte. Doch bis dahin würde er dem Orden helfen, die Knappen schneller auszubilden und die Ritter mit wieder genesenen Reittieren zu versorgen.
Ich kann die Schmerzen der Drachen lindern, das ist eine gute Sache, dachte er, aber er wusste, dass das nicht der Grund gewesen war, warum er eingewilligt hatte. Der Grund war einzig seine Angst gewesen.
»Maskenjunge«, sagte da ein Ritter vor seiner Zelle und sperrte die Tür auf. »Es ist Zeit.«
Sie waren zu zweit gekommen, und es handelte sich um die beiden Ritter, die heute Mittag Zeuge seiner Heilkräfte geworden waren, Herr Sieghold und Herr Rotheisen. Ben selbst hatte auf Befehl des Abts seinen Namen wie sein Gesicht verloren. Fortan sollte er für die meisten im Kloster Sonnenflut unsichtbar sein, für die anderen nur der Junge in der Maske.
Die beiden Ritter legten ihm abermals die Fußkette an und führten ihn aus dem Kerker und über den dunklen, verlassenen Innenhof zu den Stallungen hinüber. Sanft tropfte der Regen auf seine Maske, wo er abperlte, und sog sich in seine Kleidung. Sie zogen die breite Holztür auf und schoben Ben in die Stallgasse, die nur von wenigen Lampen erleuchtet und menschenleer war, abgesehen von einem Knappen, der lustlos den Boden fegte.
»Akse!«, sagte Herr Sieghold scharf. »Mach, dass du hier herauskommst.«
»Was hast du schon wieder angestellt?«, fragte Herr Rotheisen mit einem Lachen. »Beinahe jedes Mal bist es du, den ich bei einer Strafarbeit erwische.«
Akse stellte den Besen gegen die Wand und starrte Ben an. »Wer ist das?«
»Das geht dich nichts an«, entgegnete Herr Sieghold nachdrücklich.
»Das ist niemand«, ergänzte Herr Rotheisen. »Du hast ihn nie gesehen. Das ist ein Befehl.«
»Verstanden, Herr«, erwiderte Akse und schlug die Hacken zusammen.
»Und jetzt raus hier.«
Der Knappe eilte an ihnen vorbei, warf dabei einen neugierigen Blick auf Ben und sah ihm fragend in die Augen. Er verschwand nach draußen, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
»Der Junge kommt vor lauter Strafarbeiten doch nie zum Schlafen.« Herr Rotheisen schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, warum ihn der Hohe Abt nicht rauswirft.«
»Er wird seine guten Gründe haben, die er uns einfachen Rittern nicht mitteilt. Und auch dafür hat er sicherlich
gute Gründe.« Herr Sieghold zuckte mit den Schultern und zerrte Ben am Arm den Gang entlang. Vor einer Box hielten sie an, und Herr Rotheisen öffnete die Tür.
»Ihm wurde letztes Jahr das Hinterbein zerschmettert.« Herr Sieghold deutete auf den Drachen darin. »Seitdem hinkt Blutklaue.«
»Er ist ein großer Kämpfer«, ergänzte Herr Rotheisen, und dann wurde Ben in die Box gestoßen.
»Ruhig, Junge«, murmelte Ben und näherte sich dem Drachen mit den erdbraunen Schuppen; nur seine rechte vordere Klaue war tiefrot.
Blutklaue brummte.
Ben strich ihm sanft über die Schnauze und berührte kurz seine Schulterknubbel. Es kribbelte, und Blutklaue wandte sich ihm mit demselben überraschten Ausdruck in den Augen zu, den er bei bislang jedem Drachen nach dieser Berührung gesehen hatte.
»Alles wird gut«, murmelte Ben und ließ sich neben dem verletzten Bein nieder. Die Box war mit feinem Sand ausgestreut, und so saß Ben halbwegs bequem. Langsam strich er über die rauen Schuppen und spürte durch sie und das Fleisch hindurch, dass die Knochen zersplittert und falsch zusammengewachsen waren. In Gedanken fügte er sie richtig zusammen und versank in seiner Gabe, um diese Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen. Er spürte nichts mehr außer dem Kribbeln in seinen Händen und ab und zu den warmen Atem des Drachen, wenn sich dieser ihm neugierig zuwandte.
Nach einer Stunde oder zwei nahm er sich die Zeit, zu den beiden Rittern zu sehen, während er die Hand weiter auf dem Bein beließ. Herr Sieghold stand soldatisch steif neben
der Box und starrte stur den Gang hinunter, während Herr Rotheisen ab und an zu Ben hereinschielte, jedoch kurz und vorsichtig. Als wären sie angewiesen worden, genau das nicht zu tun.
Wahrscheinlich durfte es nicht sein, was er vollbrachte, überlegte Ben, doch es war zu nützlich, um es zu
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