Das Verlies der Stuerme
Muscheln, dazu Teller aus flachen. Einige waren unbeschädigt. Sie fanden aus Knochen geschnitzte Gabeln und aus spitzen, gezackten Zähnen gefertigte Messer, Löffel aus Horn und Holz. Sie entdeckten zahlreiche alte, teils verbeulte Gebrauchsgegenstände vom Topf bis zum grobzahnigen Kamm, jedoch nichts aus Edelmetallen oder Gemmen.
An einer Flurwand hing die gegerbte Haut eines acht Schritt langen Hais. Dort, wo die Augen gewesen waren, befanden sich nun zwei Löcher.
»Sie sind fast wie wir. Nur dass wir uns Felle an die Wand hängen statt Fischhäute«, murmelte Ben.
»Sie waren«, korrigierte ihn Anula. »Und sie waren nicht wie wir. Sie haben Menschen gefressen.«
»So meine ich das nicht. Ich wollte …« Ben öffnete eine breite doppelflüglige Tür. Dann stockte er. »Was bei Samoths finsterem Nasenloch ist das?«
Vor ihnen erstreckte sich ein langer Saal. Der Boden war kniehoch mit Sand bestreut, Muscheln und getrocknete Seesterne lagen darin, wie auch getrocknete mumifizierte Fische. Obwohl die Farbe überwiegend abgeblättert war, ließ sich doch erahnen, dass die Wände einst in den unterschiedlichsten Blautönen bemalt gewesen waren, hier und da erkannte Ben etwas, das wie der Schwung einer Welle aussah.
Am Kopfende des Saals erhob sich ein kleines Podest über den Sand. Darauf ruhte ein riesiger Krake, der ausgestopft oder mumifiziert sein musste. Leere Augenhöhlen glotzten schwarz zu ihnen herüber, die Arme waren ineinander verschlungen und ragten hinter dem gewaltigen schwarzen Körper bis beinahe zur Decke empor, die gut zehn Schritt hoch war. Sie wirkten, als habe sie jemand zu einer gigantischen Lehne geflochten. Aber weshalb sollte jemand so etwas tun?
»Sieht aus wie ein Thron«, murmelte Anula bestürzt. »Als habe der Trollkönig hier auf dem Krakenkopf gesessen und zu den Untertanen im Sand gesprochen …«
»Vielleicht musste er den Krake selbst töten, um seinen Herrschaftsanspruch zu untermauern«, vermutete Ben und war für einen Moment schwer beeindruckt. Was mussten die Seetrolle für ungeheure Kämpfer gewesen sein.
Und Menschenfresser, erinnerte er sich wieder, und schon war all seine Bewunderung verflogen. Was für widerliche
Stinkschädel, diese Seetrolle. Er sprang in den Sand und stapfte hinüber.
»Warte«, rief Anula und folgte ihm.
Der Krake fühlte sich an wie trockenes Leder und war hart wie Stein. Oben hatte er zwei flache Dellen, die Ben zum Lachen brachten.
»Es ist wirklich ein Thron«, sagte er. »Und das sind die Abdrücke von den fetten Hinterbacken des Trollkönigs. Der hat jahrelang nichts anderes gemacht als hier herumgelümmelt und Befehle erteilt.«
»Spinner.« Anula lachte. Wer hier bequem hatte sitzen wollen, musste vier Schritt groß gewesen sein.
Die Augen des toten Tiers waren entfernt worden. Vielleicht durch Glas oder Edelsteine ersetzt, wie es auch die meisten Jäger taten, vermutete Ben.
»Und wo sind die dann jetzt?«, fragte Anula. »Hier sind nur tiefe Löcher.«
»Wenn es Edelsteine waren, haben sie bestimmt die Steuereintreiber herausgebrochen.«
»Du bist eklig.«
»Ich nicht. Die«, erwiderte Ben. »Und wenn das wirklich ein Thron ist, dann waren es bestimmt Edelsteine.«
»Hör auf.«
Und wenn sie sogar Edelsteine aus dem Thron brechen, übersehen sie gewiss keine Krone oder andere Schätze, dachte Ben. Dennoch ließ er den Blick noch einmal durch den Saal schweifen. Vergebens, nirgendwo fand sich auch nur das kleinste Anzeichen eines Schatzes.
»Komm, wir zeigen es den anderen«, sagte Anula.
»Gleich«, sagte Ben und hopste auf den Thron. Dort intonierte er: »Ich bin der fürchterbare König der Seetrolle!«
»Du bist winzig, du abgebrochener König der Zwergtrolle. « Anula lachte und zog Ben herunter und mit sich hinaus in die Sonne.
Auch Yanko, Nica, Nesto und Finta hatten ähnliche Funde gemacht, abgesehen von dem Krakenthron, was Yanko sichtlich wurmte. Stattdessen waren er und Nica auf eine Truhe voll halb verfallener Lendenschurze und Umhänge gestoßen. Die Lendenschurze waren so groß, dass sie der klein gewachsenen Anula fast als Zudecke hätten dienen können. Dennoch waren sie kein Vergleich zu dem gigantischen, ausgestopften Kraken.
»Aber ein richtiger Schatz ist das auch nicht«, sagte Yanko trotzig, und Ben musste ihm recht geben.
Gemeinsam oder getrennt suchten sie noch stundenlang weiter, während die Drachen draußen in der Sonne dösten und ab und zu einen Fisch fingen oder eine schwere,
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