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Das Verlies der Stuerme

Das Verlies der Stuerme

Titel: Das Verlies der Stuerme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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ich doch zur See gefahren. Um fortzukommen. «
    »Hm. Das versteh ich.« Mit zwei Fingern lockerte Ben beiläufig ein Stück Stein aus der Mauer und schleuderte es Richtung Meer. Nicht weit genug, es prallte auf den Fels und rollte noch ein Stück, bevor es liegen blieb. »Wolltest du schon immer zur See fahren?«
    »Nein. Früher wollte ich Drachenritter werden.«
    Überrascht blickte Ben den Jungen an, der so schmächtig und jung war. Bis vor einigen Monaten hatte sich Ben dasselbe gewünscht, was für ein merkwürdiger Zufall. Oder auch nicht, denn wahrscheinlich wollte jeder Junge im Großtirdischen Reich Drachenritter werden. »Was hat sich geändert, dass du nicht mehr wolltest?«
    »Geändert?« Inzwischen hatte Nesto ein kieselgroßes Stück aus der Mauer gebrochen und schleuderte es in Richtung Meer, doch ebenso wie Ben zu kurz. »Nun, ich wurde … Weißt du, mein Vater war einst der jüngste Knappe, der je die Aufnahmeprüfung des Ordens bestanden hat.
Und das nicht gerade knapp, sondern mit den besten Ergebnissen aller zwölf Jungen, die in jenem Herbst im Kloster aufgenommen wurden. Dabei war seine Familie weder von Stand noch wohlhabend. Jeden einzelnen Übungskampf gewann er, und ihm wurde eine große Zukunft als Drachenritter zugetraut. Die Ritter stritten sich lauthals darum, ihn unterrichten zu dürfen, manche wurden sogar handgreiflich, obwohl sich das ganz und gar nicht geziemte. Doch dann wurde er im Schlaf von einem schwarzen Skorpion in den großen rechten Zeh gestochen. Das kriechende Gift breitete sich aus, und bis zum Morgengrauen war sein Fuß verdorrt, steif, trocken, schwarz und ohne Gefühl bis zum Knie hinauf. Nur mit Mühe und dank seiner Zähigkeit konnte der Giftfluss gestoppt werden, doch fortan konnte er sich nur noch hinkend fortbewegen. Er wurde niemals ein Ritter. Ob ein anderer Knappe, der auf sein Ansehen neidisch war, das Tier in sein Bett gelegt hatte, hat man nie herausgefunden.
    Er erlernte das Schmiedehandwerk und diente dem Orden am Amboss, indem er prächtige Rüstungen und die schärfsten Klingen Rhaconias schmiedete. Und er schwor feierlich, dass sein Sohn einst die ihm vorbestimmte Stelle als Ritter einnehmen würde, doch dann wurde ihm eine Tochter nach der anderen geboren. Fast drohte er zu verzweifeln, bis schließlich ich als sechstes Kind zur Welt kam, sein erstgeborener Sohn.
    Vom ersten Tag an bildete er mich mit Hingabe aus. Ich lernte fechten, bevor ich laufen oder sprechen konnte. Ich sollte ihn nicht nur als jüngster Knappe aller Zeiten ablösen, sondern in allem übertreffen. Weniger war nicht gut genug, also übte ich besessen unter seiner Anleitung von Sonnenaufgang
bis -untergang, und ich wollte nichts anderes als Ritter werden und meinen Vater übertreffen.
    Am Abend vor der Prüfung bekam ich Fieber, aber ich sagte nichts. Seit Wochen sprach mein Vater mit glänzenden Augen nur noch von diesem Tag, von einer triumphalen Aufnahme in den Orden. Jeden Nachbarn, jeden Fremden auf der Straße hatte er darauf hingewiesen, ich konnte nicht einfach ausfallen. Über Nacht wurde das Fieber schlimmer, Schüttelfrost gesellte sich hinzu, doch ich sagte mir, in einem wirklichen Kampf würde ein gefräßiger Drache auch keine Rücksicht nehmen, und ging hin, ich dämlicher Schwachkopf.
    Nun, vielleicht hätte ich es trotz Krankheit geschafft, irgendwie und mit Müh und Not, doch ich war so aufgeregt, dass ich schon bei der Begrüßungszeremonie meinen Schild auf den Fuß des Jungen neben mir fallen ließ. Und so ging es weiter. Ich stolperte, wo es nur ging, glitt während des Hindernislaufs um das Kloster aus, zerbrach einen Bogen, und schließlich rutschte mir beim Ausholen das Schwert aus den schweißnassen Fingern und raste auf den Hohen Abt Khelchos zu. Niemals hätte es ihn getroffen, doch ein Ritter schlug es im Flug zu Boden, und die Umstehenden schrien: Attentat! und Mörder!
    Ein Dutzend Ritter warf sich auf mich, drückte mich zu Boden und führte mich schließlich ab. Tagelang wurde ich eingesperrt und befragt, ob das ein geplanter Anschlag gewesen sei. Nur der gute Ruf meines Vaters rettete mich. Ein Ruf, den ich befleckt hatte. Von diesem Tag an konnte ich meinem Vater nicht mehr in die Augen sehen, und er sprach kein Wort mehr mit mir. Ich war sein einziger Sohn, er hatte keine weitere Hoffnung, seinen Traum erfüllt zu
sehen; nun musste er auf einen Enkel warten. Doch meine älteste Schwester hatte erst zwei Mädchen geboren, und meine

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