Das Verlies der Stuerme
letzten Blick zurückwarf, sah er seine Eltern am Fenster stehen. Entsetzt starrten sie ihm nach, und seine Mutter machte das Schutzzeichen vor bösen Gedanken.
Als sie sich dem Anwesen Yirkhenbargs näherten, erkannten sie, dass vor Feuerschuppes ehemaligem Stall ein anderer, sechs Schritt langer und dunkel geschuppter Drache ohne Flügel im Gras lag und döste. Hinter den erleuchteten Fenstern sahen sie fremde Menschen. Auf der rückseitigen Mauer kauerte eine kleine Gestalt und starrte auf das Gebäude hinüber.
»Sidhy«, entfuhr es Nica, und sie gingen nach unten.
Aufgeschreckt drehte sich der Junge um und wäre vor Schreck fast von der Mauer gefallen. Es war tatsächlich Sidhy, und er sah schlecht aus, abgemagert und vernachlässigt, das helle Haar lang und schmutzig, eine Narbe zog sich über seine linke ungewaschene Wange.
»Hallo, Bruder«, sagte Nica kühl, als die Drachen auf dem schmalen Streifen zwischen Mauer und Dherrnkanal gelandet waren.
»Nica!« Sidhys Züge hellten sich auf. »Du bist es wirklich, kleine Schwester.«
»Ja.«
»Aber …« Mit zitternden Fingern deutete er auf die Drachen. »Tun die nichts?«
»Was soll das, du kennst mich doch«, brummte Feuerschuppe.
»Äh, Feuerschuppe?«
»Wer sonst?«
»Ich hab dich gar nicht erkannt, im Dunkeln und mit den, äh, Flügeln. Hallo?«
»Hm«, brummte der Drache. Er klang nicht glücklich.
»Nein, die tun nichts«, versicherte Nica noch mal.
»Gut.«
Gut. Das war alles, was er sagte. Würden ihnen alle anderen doch ebenso schnell glauben, dachte Yanko bitter. Währenddessen wandte sich Sidhy ihm zu und begrüßte ihn ebenso freundlich.
Yanko nickte knapp. Liebend gern hätte er den Kerl von der Mauer gestoßen, damit er sich den Fuß brach oder so. Für alles, was er früher getan hatte. Aber es war Nicas Bruder, sie hatte das Recht, ihn zuerst zu stoßen, wenn sie wollte.
»Ich bin so froh, euch zu sehen«, sagte Sidhy. »Ich dachte, ihr seid tot.«
»Da bist du nicht der Einzige«, knurrte Yanko.
Sidhy ignorierte ihn und sah Nica an, plötzlich ernst und traurig. »Es tut mir so leid, was Vater und Mutter mit dir … Ich wusste es nicht.«
Nica wirkte vollkommen überrumpelt. Mehrmals setzte sie an, etwas zu erwidern, doch sie brachte kein Wort hervor. Auch Yanko wusste nichts zu sagen. Mitleid aus Sidhys Mund war einfach überraschend.
»Mutter hat es mir erst gesagt, kurz bevor sie sie gehenkt haben.«
»Mutter ist tot?«
»Ja. Seit Winteranfang. Da haben sie alle Ketzer gehenkt, die nicht gefallen sind. Und Lenyoni haben sie mitgenommen, um ihn in ein Waisenkloster zu stecken.« Beim Gedanken an seinen kleinen Bruder schluckte Sidhy. »Dort soll er Demut und den rechten Glauben lernen.«
»Lenyoni«, hauchte Nica, ihre Stimme zitterte. »Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Anscheinend machen sie das mit allen Ketzerkindern, die noch zu jung für eine Hinrichtung sind.« Sidhy zuckte mit den Schultern. »Wenigstens hat er noch eine Gabel nach einem Ritter geworfen, bevor sie ihn wegschaffen konnten, und ihn im Auge getroffen.«
Nica ließ ein Schnauben hören, halb verzweifeltes Lachen, halb Schluchzen. »Und du?«
»Hab mich in einer Höhle versteckt. In der auch Ben gelebt hat. Ich … hatte einfach Angst. Hab noch immer Angst.«
Und während Yanko tiefes Mitleid mit Nica verspürte, konnte er nicht umhin, sich ein klein wenig über Sidhys
Schicksal zu freuen. Sollte er doch noch ein ganzes Jahr in seiner Höhle sitzen und vor Furcht bibbern.
Doch Nica fragte ihren Bruder einfach: »Willst du mitkommen? «
»Ja«, sagte Sidhy sofort. Und erst nach einem kurzen Zögern: »Wohin?«
»In den Süden.«
»Ich glaube nicht, dass es Ben gefällt, wenn wir ihn mitbringen«, wandte Yanko ein, als er die Sprache wiedergefunden hatte.
»Ben?« Sidhy sah sie abwechselnd an, Verzweiflung zeigte sich auf seinen Zügen. »Bitte, Yanko, nehmt mich mit. Es tut mir leid, was ich zu Ben gesagt und ihm angetan habe … Nica, bitte!«
»Steig hinter mir auf«, sagte Nica. »Aber bei Ben entschuldigst du dich selbst.«
»Ben wird darüber nicht glücklich sein«, wiederholte Yanko noch einmal und sah Sidhy mit Abscheu an, während dieser auf Feuerschuppes Rücken kletterte. »Und ich bin es auch nicht.« Er hatte nicht vergessen, wie sich Sidhy verhalten hatte, und misstraute ihm noch immer.
»Sidhy ist mein Bruder. Er ist alles an Familie, was ich noch habe.«
»Du hast mich. Und Ben und Feuerschuppe, Juri, Anula …«
»Ja.
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