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Das Verlies der Stuerme

Das Verlies der Stuerme

Titel: Das Verlies der Stuerme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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packte den ersten Flügel dort, wo er von der Schulter getrennt worden war. Dort, wo das Blut eine dicke raue Kruste gebildet hatte, die unter seinem festen Griff bröckelte. Wo Knochen gesplittert waren.
    Wie im Wahn packte er die Wunde mit beiden Händen und sandte all seine Heilkräfte hindurch, als könnte er aus dem Flügel einen ganzen Drachen wachsen lassen, nicht nur einen Flügel aus einem Drachen.
    »Aiphyron, nein!« Er umkrallte den Flügel immer fester, doch kein Pulsieren wollte sich einstellen, nichts regte sich. Es war nur noch totes Fleisch.
    Ben ließ die Hände sinken und blieb reglos sitzen, den
blutigen Flügel auf den Knien. Er fühlte sich furchtbar allein. Was sollte nur ohne Aiphyron werden?
    Mehrmals spuckte er aus, weil er dachte, er müsse sich übergeben, doch nur übler Geschmack nach Galle stieg in ihm auf, und er fühlte sich vollkommen leer. Tränen rannen ihm über das Gesicht.
    »Ben, du Flennbaby!« Wütend schrie er auf, stieß den Flügel von seinem Schoß und zog den Rotz die Nase hoch. Was hieß hier ohne Aiphyron? Er war nicht tot, es waren nur seine Flügel. Aiphyron war irgendwo. Unterjocht, aber am Leben. Zum ersten Mal versklavt und verstummt. Einen Flügel hatten sie ihm mal genommen, doch nie beide. Ben musste ihn finden und befreien. Und zwar sofort – weit konnten sie noch nicht sein.
    »Ihr verfluchten Eisenhemden!«, brüllte Ben und stürzte wieder unter die Bäume. Hastig sah er sich noch einmal nach irgendwelchen Hinweisen um und entdeckte am Rand des Kampfplatzes ein abgerissenes Stück eines roten Umhangs. Eines Umhangs, wie ihn alle verfluchten Ordensritter trugen. Warum waren sie nur alle gleich? Gleichschritt, gleiche Lügen im Kopf und gleiche Kleidung am Leib. Wie sollte er da erkennen, aus welchem Kloster oder welcher Stadt dieser eine stammte?
    Doch würde ein Ritter nicht möglichst immer ins nächstgelegene Kloster gehen? Und sei es nur, um seine Wunden zu versorgen und sich als Held und großen Befreier feiern zu lassen. Inständig hoffte Ben, dass Aiphyron dem Kerl viele tiefe und schmerzhafte Wunden beigebracht hatte, die sich entzünden und schwarz eitern würden. Oder den Kerlen, wahrscheinlich waren sie feige in der Gruppe gekommen. Und natürlich von hinten.

    Jetzt, da er den Boden gründlicher betrachtete, entdeckte er auch Spuren, die aus der Bucht hinausführten. Quer durch den Wald und auf die Straße, die aus dem Süden kam und nach Rhaconia führte, daran vorbei und weiter zum Kloster Sonnenflut.
    Hatte er es nicht gesagt? Das nächstgelegene Kloster.
    Er würde sie kriegen und Aiphyron befreien!
    Verzweifelt rannte er die Straße entlang, weiter und weiter, bis er die letzten Bäume hinter sich ließ. Kurz verharrte er am Waldrand und blickte über die Ebene. Links vor ihm erstreckte sich Rhaconia, dahinter das Kloster, das im Schein der tief stehenden Sonne blendend weiß strahlte. Es war zu weit entfernt, um etwas Genaues zu erkennen, doch gerade eben näherte sich jemand dem fernen Tor, der größer war als ein Pferd. Den Bewegungen nach war es eindeutig auch keine Kutsche. Etwas blitzte bläulich in der Sonne.
    »Aiphyron«, keuchte Ben und rannte wieder los. Die letzten Tränen auf seinem Gesicht waren längst getrocknet. Er würde Aiphyron da noch heute heraushauen, egal, wie viele verfluchte Ritter in diesem Kloster steckten. So dämlich wie die Torwächter waren, würde er leicht hineinkommen, er musste sich nur schnell ein besonders dringendes Anliegen überlegen. Und war er erst einmal im Kloster, würde ihm schon etwas einfallen, wie er mit Aiphyron auch wieder herauskam.
    »Wirst du erwartet?«, fragte der erste der beiden Torwächter.
    Ben konnte nicht mit Sicherheit behaupten, dass es dieselben vom letzten Mal waren, doch sie sahen genauso aus; riesengroß, massig, mit einem gewaltigen Kinn und reglos
wie aus Stein. Eben wie beinahe jeder Torwächter, auf den er jemals getroffen war.
    »Ein dringendes Anliegen führt mich her«, sprudelte es aus Ben hervor, obwohl er sich über die drängende Sorge um Aiphyron nur eine dünne Geschichte zurechtgelegt hatte.
    »Und welches?«, fragte der zweite Torwächter.
    »Es geht um ein Fass, das kürzlich geliefert wurde. Eine schrecklich peinliche Fehllieferung. Es enthält nicht den gewünschten Weißwein für die Gäste des Abts, sondern verdünnte Drachenpisse, die morgen früh in die Pyramidenstadt Entheb geliefert werden sollte.«
    »Verdünnte Drachenpisse?« Zum ersten Mal

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