Das Verlies
natürlich frage ich mich, was ich falsch gemacht habe.«
»Und körperlich?«
»Halb so wild. Gabriele war eine miserable Schützin. Das ist der einzige Grund, weshalb ich noch lebe. Meinen linken Arm werde ich wohl ein paar Tage nicht gebrauchen können, aber was soll’s. Begreifen werde ich das alles wohl nie.«
Rolf Lura holte eine Flasche Bordeaux und drei Gläser, schenkte ein und sagte immer noch mit Leidensmiene und einem aufgesetzt gequälten Lächeln: »Auf euer Wohl.«
»Auf Ihr Wohl«, entgegnete Andrea und hob das Glas. »Damit Sie bald wieder gesund sind.«
»Ich heiße Rolf, und ich bin gesund. Es tut nur noch ein bisschen weh, aber in ein paar Tagen wird auch das vorbei sein. Ich mache mir viel mehr Sorgen um Markus. Er trauert sehr. Wie ist er denn bei euch?«
»Nicht viel anders. Aber was willst du von einem Zwölfjährigen schon erwarten?«, sagte Wolfram. »Der Schock sitzt tief. Er muss für meine Begriffe unbedingt eine Therapie machen.«
»Ich werde einen guten Therapeuten finden. Wenn ich das alles nur einigermaßen begreifen könnte«, meinte Rolf mit weinerlicher Stimme und wandte seinen Kopf zur Seite, obwohl er innerlich grinsen musste.
»Möchtest du mal darüber sprechen?«, fragte Wolfram, der sein Glas ausgetrunken hatte und sich nachschenkte. »Du musst nicht, aber …«
»Schon gut …«
Rolf Lura erzählte in den folgenden Minuten dieselbe Geschichte, die er bereits Julia Durant und Frank Hellmer erzählt hatte. Nachdem er geendet hatte, sagte Andrea: »Und deine Frau hat nie irgendwelche Anzeichen gezeigt, ich meine …«
»Nein, nie. Ich hätte sonst doch etwas unternommen.«
»Und was sagt Mutter zu dem Ganzen?«, fragte Wolfram.
»Sie ist genauso entsetzt. Sie hat Gabi gemocht, auch wenn sie es ihr nie richtig zeigen konnte, du kennst sie ja. Sie kann ihre Gefühle genauso wenig ausdrücken wie ich. Hab ich wohl von ihr geerbt. Ich bin eben der typische Geschäftsmann, immer kühl und … Aber ich habe Gabi geliebt wie keine andere Frau jemals zuvor. Und es wird auch nie eine Frau geben, die ihren Platz einnehmen wird. Dazu war Gabi zu einzigartig.«
»Obwohl sie dich umbringen wollte?«, sagte Wolfram zweifelnd und mit einem leicht ironischen Unterton. »Ich weiß nicht, ob ich jemanden lieben könnte, der versucht hat, mich umzubringen. Ich hätte nur noch Hass für denjenigen übrig.«
»Ach, Wolfram, wenn du in meiner Situation wärst, würdest du ganz anders denken.«
»Deine Frau hat Klavier gespielt, wie Wolfram mir erzählt hat. Sie soll sogar eine hervorragende Pianistin gewesen sein. Warum hat sie damit aufgehört?«
»Als Markus geboren wurde, wollte sie nur noch für die Familie da sein …«
»Aber da war doch auch noch die Geschichte mit dem kleinen Finger. Was ist damals eigentlich passiert?«, fragte Wolfram, der die Antwort wusste, aber gespannt war auf Rolfs Version.
Für einen kurzen Moment meinte Wolfram ein Aufblitzen in den Augen seines Bruders auszumachen, der einen Schluck aus seinem Glas nahm und es wieder auf den Tisch stellte.
»Sie hat sich den Finger gebrochen. Sie ist in der Küche ausgerutscht und so unglücklich gefallen … Das war furchtbar für sie, vor allem, weil er danach fast steif geblieben ist. Sie hatte zudem Zeitpunkt gerade wieder angefangen, Klavier zu spielen, und wollte zurück auf die Bühne oder zumindest als Musikdozentin arbeiten, aber damit war’s dann vorbei. Sie hat viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Und ich denke mir, wenn ich alles zusammen betrachte, waren es diese Schläge, die sie zu dieser Verzweiflungstat getrieben haben. Deshalb kann ich ihr einfach nicht böse sein. Und im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich nicht mehr Zeit für sie aufgewendet habe. Ich war wohl nie da, wenn sie mich wirklich brauchte.«
»Ja, ja, das ist schon tragisch«, bemerkte Wolfram und spielte den Mitfühlenden, »aber nicht zu ändern. Halt die Ohren steif, Bruderherz, und wenn was ist, klingel einfach durch. Wir müssen jetzt los, ich muss nämlich noch einen Artikel schreiben«, log er.
»Du schreibst wieder?«
»Nur kleine Aufträge für Feuilletons. Andrea verdient im Moment noch das Geld für uns.«
»Wartet noch ein paar Minuten.« Rolf Lura erhob sich und ging in sein Arbeitszimmer. Er kam mit Markus zurück und sagte zu seinem Bruder: »Hier, nimm das, ich denke, du kannst es brauchen. Und komm bloß nicht auf die Idee, es mir zurückzuzahlen. Sagen wir, es ist für Kost und Logis von Markus.«
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