Das Verlies
vorerst?«
»Ja«, antwortete Markus zögernd.
»Ich weiß, hier in diesem Haus erinnert dich alles an deine Mutter. Wenn ich sie nur davor hätte bewahren können, dieses … Ach Markus«, sagte er, zog ihn zu sich heran und legte seine Arme um ihn, »das Leben muss weitergehen, und es wird weitergehen. Wir haben ja noch uns. Ich werde alles tun, dass aus dir ein richtiger Mann wird. Denn eines Tages wirst du das Autohaus übernehmen. Aber darüber reden wir nicht jetzt. Möchtest du mit nach unten kommen oder lieber hier oben bleiben?«
»Weiß nicht.«
»Ich geh jetzt runter, du kannst ja nachkommen.«
»Warum hast du Mutti immer geschlagen?«, fragte Markus unvermittelt, woraufhin ihn sein Vater ernst ansah.
»Du denkst wirklich, ich hätte deine Mutter schlecht behandelt?«, sagte er und kam wieder näher. »Mein Junge, du wirst erst begreifen, was zwischen Eheleuten vorgeht, wenn du selbst verheiratet bist. Ich gebe zu, ich habe deine Mutter früher ein paar Mal geschlagen, aber ich habe mich geändert, als ich erkannte, dass man das nicht machen darf. Ich weiß aber auch, dass sie dir, und nicht nur dir, oft Dinge über mich erzählt hat, die einfach nicht wahr sind. Für dich bin ich wahrscheinlich ein böser alter Mann, ein schlechter Vater und ein schlechter Ehemann. Aber ich werde dir im Laufe der Jahre das Gegenteil beweisen. Und noch was – deine Mutter hat versucht, mich umzubringen, das solltest du nie vergessen. Egal, was auch immer geschieht oder geschehen sein mag, es gibt keinen einzigen Grund, einen Menschen zu töten. Sie hat mich zusammen mit ihrem Liebhaber entführt und zweimal auf mich geschossen. Ich habe Glück, dass ich noch am Leben bin. Ich hoffe, du wirst bald merken, dass ich es immer nur gut mit euch gemeint habe, und ich danke Gott, dass er mich am Leben gelassen hat. Trotzdem bitte ich dich inständig, behalte sie so in Erinnerung, wie du sie gekannt hast, nämlich als eine liebevolle, treusorgende Mutter.Denn wenn sie jemanden aufrichtig geliebt hat, dann dich. Ich kann sie dir nicht ersetzen, aber ich werde mein Bestes tun und dir ein guter Vater sein. Versprochen.«
Rolf Lura drehte sich um und begab sich nach unten, Markus stellte sich ans Fenster, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und schaute hinaus in das triste Grau, aus dem unablässig der Regen fiel. Er war verwirrt, er konnte und wollte nicht glauben, dass seine über alles geliebte Mutter seinen verhassten Vater umbringen wollte. Und doch hallten die Worte seines Vaters in seinen Ohren nach, Worte, die wie Nadelstiche waren. Aber er hatte es doch so viele Male mit eigenen Augen gesehen, er hatte es gehört, wenn er zugeschlagen hatte. Er hatte die erstickten Schreie gehört, die bösen Worte, die aus dem Mund seines Vaters gekommen waren.
Er hatte sie getröstet, wenn ihr Körper wieder zerschunden war, sie hatten noch vor ein paar Tagen Pläne gemacht, um abzuhauen. Und jetzt fühlte er nur noch eine unendliche Leere und Trauer in sich. »Mutti«, sagte er leise, als könnte sie ihn hören. »Mutti, du hast doch nicht versucht, Papa zu töten, oder?« Er sprach mit ihr, doch es war, als würde er mit dem Regen sprechen, der, von einem böigen Wind getrieben, an das Fenster prasselte. Seit drei Tagen erst war sie tot, und bereits jetzt konnte er sich an ihr Gesicht nur noch schemenhaft erinnern, und er fragte sich, warum das so war. Sosehr er sich auch anstrengte, ihr Gesicht war verschwunden, und hätte er nicht die Fotos, so gäbe es bald überhaupt keine Erinnerung mehr an sie. Nur ihre Stimme war noch da, diese warme, zärtliche Stimme, wenn sie in sein Ohr flüsterte, dass er keine Angst zu haben brauche, es werde alles gut werden. Irgendwann und irgendwie. »Warum hast du mich mit ihm allein gelassen? Ich will nicht bei ihm bleiben, ich will auch nicht bei Wolfram bleiben …« Er ließ sich auf sein Bett fallen, vergrub sein Gesicht im Kissen und schluchzte hemmungslos.
Wieder unten, machte Rolf Lura ein leidendes Gesicht undsagte: »Markus wollte noch auf seinem Zimmer bleiben, ihm geht es wirklich schlecht. Ich denke aber, dass er bald runterkommen wird. Möchtet ihr was trinken? Vielleicht ein Glas Wein?«
»Gerne«, antwortete Andrea. »Wie geht es Ihnen, wenn ich das fragen darf?«
»Wie soll’s mir schon gehen. Das Haus ist leer, meine Frau wird nie mehr wiederkommen … Das einzig Gute, das ich all dem abgewinnen konnte, ist, dass ich das Leben neu zu schätzen gelernt habe. Und
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