Das Verlies
neuen Player legte und die Lautstärke aufdrehte. Sie bemerkte nicht den dunkelblauen Honda Civic, der auf der anderen Straßenseite stand und aus dem eine Person sie beobachtete.
Julia Durant fuhr langsam durch die jetzt einsamen Straßen des kleinen, aber noblen Viertels und versuchte trotz der Nacht ein paar Eindrücke zu gewinnen. Hier lebt jeder für sich allein, dachte sie nur. Sie hatte schon viele solcher Viertel gesehen und viele Menschen kennen gelernt, die in einem komfortablen Haus vor sich hin lebten. Sie scheffelten Geld, fuhren zwei oder drei Autos, doch glücklich waren nur wenige von ihnen. Die meisten waren einsam oder innerlich hart und kalt. Vor zwei Wochen hatte sie ihren Vater von Donnerstag bis Sonntag besucht, einfach nur, um zu reden, etwas Erinnerungen aufzufrischen und dadurch Kraft zu tanken. Am Freitagabend hatten sie bis in die frühen Morgenstunden bei Kerzenschein und leiser Musik imWohnzimmer gesessen, hatten herrlichen Früchtetee getrunken und gequatscht. Und zwangsläufig kamen sie auf Gott und die Menschen zu sprechen, und ihr Vater hatte gesagt, ein Zeichen der letzten Tage dieser Erde sei, dass die Nächstenliebe erkalten würde. Sie hatte ihm zugehört, und seine Ausführungen klangen plausibel. Und irgendwie deckten sie sich mit dem, was sie in den letzten Jahren bei der Polizei erlebt hatte, nämlich dass die Menschen immer kälter wurden. Sie liebte ihren Vater, für sie war er der weiseste und gütigste Mensch überhaupt, und sie wünschte sich manchmal, wenigstens ein bisschen von seinem Glauben und seiner Demut zu haben. Seine Tür war immer noch für jeden offen, auch wenn er längst nicht mehr als Pastor sonntags auf der Kanzel stand, aber die Leute im Ort mochten ihn, und er wollte auch weiterhin für jene da sein, die seine Hilfe und seinen Rat suchten.
Auf der Heimfahrt ließ sie den Tag Revue passieren, der mit der Vernehmung des mordverdächtigen Scheffler begonnen hatte, anschließend war die Festnahme der beiden eigentlichen Mörder, und letztlich endete alles mit dem spurlosen Verschwinden eines reichen Autohändlers.
Zu Hause angekommen, würde sie vor dem Zubettgehen noch eine Scheibe Brot essen und ein Bier trinken und vielleicht noch duschen. Sie fühlte eine bleierne Müdigkeit in ihren Gliedern, und ihre Beine schmerzten. Ich werde älter, sagte sie sich, als sie ihren Corsa über hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt parkte. Ein beschissener Tag, ein absolut beschissener Tag, dachte sie und ging mit schweren Schritten auf das Haus zu. Sie nahm die Post aus dem Kasten, bis auf einen Brief von Susanne Tomlin war alles wertloser Reklamemüll, den sie gleich entsorgte. Sie wusch sich die Hände, machte sich ein Salamibrot und holte eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Dann legte sie die Beine hoch und aß. Sie hatte keine Lust mehr, über Lura nachzudenken. Heute Nacht konnte sie sowieso nichts mehr tun.
Dienstag, 22.55 Uhr
Frank Hellmer hatte etwas gegessen und mit seiner Frau Nadine noch eine halbe Stunde im Wohnzimmer verbracht. Sie hatten sich über den vergangenen Tag unterhalten und über Rolf Lura.
»Er ist ein Autoverkäufer, das ist alles«, antwortete sie auf die Frage, wie sie Lura einschätze. »Auf jeden Fall ist er nicht mein Typ. Er hat etwas im Blick, das ich nicht mag, wobei ich dir nicht einmal genau sagen könnte, was es ist. Ich könnte mich jedenfalls in seiner Nähe nicht wohl fühlen. Und er hat was Schmieriges an sich, auch wenn das dem gängigen Klischee eines Autoverkäufers entspricht. Aber wahrscheinlich gehört das zum Beruf. Er ist erfolgreich, zu ihm kommt nur, wer auch das nötige Kleingeld hat, aber befreundet möchte ich nicht mit ihm sein.«
»Das sollst du ja auch nicht«, sagte Hellmer. »Wir müssen jedenfalls davon ausgehen, dass wir es mit einem Verbrechen zu tun haben. Und da ist es egal, ob jemand schmierig ist oder verschlagen oder was immer. Hast du dich durch seine Gegenwart in irgendeiner Weise belästigt gefühlt?«
»Ich hatte beim ersten Mal, als ich allein dort war, das Gefühl, als würde er mich mit seinen Augen ausziehen. Und du weißt, wie sehr ich so was hasse. Nein, ich will mit solchen Menschen nichts zu tun haben. Aber das ist meine Meinung, andere finden ihn wahrscheinlich ganz toll. In meinem Leben gibt es jedenfalls nur einen Mann, und das bist du. Fertig!«, meinte sie lachend und umarmte ihn.
»Ist ja gut«, sagte er und gab ihr einen Kuss, als das Handy klingelte. Ein Mann von der
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