Das Verlies
Immer wieder sagte sie sich: Er kommt nicht wieder, nein, das ist unmöglich, schließlich wurde Blut in seinem Auto gefunden, ihm muss etwas zugestoßen sein, aber es fehlen Beweise. Und da war niemand, der ihr half, ihr Sicherheit gab. Außer Werner Becker, doch selbst bei ihm war sie unsicher, was seine Versprechungen betraf. Ihr Leben war alles andere als rosig verlaufen – erst der frühe Verlust der Eltern, an die sie sich kaum noch erinnern konnte, danach von der Großmutter aufgezogen, einer liebevollen und sehr gläubigen Frau, die trotz ihres beinahe kindlichen Glaubens nie den Blick für die Realität verloren hatte und ihr zeigte, dass das Leben nie ungerecht war, die Menschen mit ihrem begrenzten Verstand es nur allzu oft so empfanden. Sie würde nie aufhören, ihre Großmutter zu lieben, diese warmherzige, gutmütige Frau, die nie jammerte, nie schlecht über einen andern sprach, die immer für andere da war, auch wenn ihr eigenes Leben durchviele Schicksalsschläge gezeichnet war. Ihr Lebensmut und ihre Freude übertrugen sich auch auf ihre Enkelin.
Schließlich fand sie bereits mit fünf Jahren ihre Liebe zur Musik, bekam Klavierunterricht und gab schon im zarten Alter von neun Jahren erste Konzerte. Einer der berühmtesten Musiklehrer, ein Pole, hatte, als sie elf war, über sie gesagt, ein größeres Talent sei ihm nie zuvor untergekommen. Er hatte sie unter seine Fittiche genommen, ihr die Technik des Spielens vermittelt, die Feinheiten, das Gefühl und der Ausdruck aber waren ihr in die Wiege gelegt worden. Sie hatte die Fähigkeit, mit ihrem Spiel Glücksgefühle bei den Zuhörern entstehen zu lassen, doch auch Trauer, Freude und Schwermut. Vor allem aber interpretierte sie in den Augen ihres Lehrers die Stücke von Tschaikowsky, Chopin, Scriabin und all den anderen großen Komponisten auf eine Weise, wie diese es gewollt hätten. Und dann, als ihr Karrierepfeil steil nach oben zeigte, als die größten Bühnen der Welt kein bloßer Traum, sondern Realität werden sollten, trat Rolf Lura in ihr Leben. Da war sie gerade einmal einundzwanzig Jahre alt. Und jetzt, mit vierunddreißig, fühlte sie sich alt, verbraucht und ausgebrannt. Was immer sie bewog, mehr auf ihn als auf all jene zu hören, die ihr von einer Heirat abrieten, vermochte sie heute nicht mehr zu sagen. Nachdem sie die ersten beiden Konzertverträge platzen ließ, weil ihr Mann das so wollte, wandten sich alle ehemaligen Freunde und Gönner kopfschüttelnd von ihr ab. Und damit war ihre Karriere, die noch nicht einmal richtig begonnen hatte, bereits beendet. Seit über dreizehn Jahren spielte sie nur noch für sich allein, aber sie merkte selbst, dass das Feuer und die Begeisterung verloschen waren und nie mehr aufflammen würden. Dafür war sie zu lange aus dem Geschäft. Und es würde auch nie wieder so werden können wie früher, denn nicht lange nach der Hochzeit hatte ihr Mann ihr in einem seiner gefürchteten Wutanfälle den kleinen Finger der rechten Hand gebrochen, der seitdem viel von seiner Beweglichkeit eingebüßt hatte. Wie oft hatte sie in den ersten Jahren ihrer Ehe geweint, aber dawar niemand, der sie in den Arm nahm und sie tröstete. Markus war noch ein Baby oder ein Kleinkind, und doch der einzige Mensch, von dem sie sich geliebt fühlte. Sie stritt mit Gott, fragte ihn, warum er all dieses Leid über sie hatte kommen lassen, aber die einzige Antwort war immer dieses ruhige Gefühl, das ihr sagte, alles würde gut werden, und der Traum, den sie seit Jahren schon träumte und der in den letzten Wochen immer häufiger kam, meist morgens kurz vor dem Aufwachen, ein Traum, in dem sie schwebte, in dem alles Ruhe ausstrahlte, hell war und sie sich einfach geborgen fühlte. Sie wusste, es war die Antwort, die Gott ihr auf all die Gebete gab, aber sie wusste nicht wirklich, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Und vor allem wusste sie nicht, weshalb sie immer nur allein war, umgeben von einer unbeschreiblichen Liebe, aber Markus nirgends zu sehen war. Doch selbst dies beunruhigte sie nicht, denn sie war sicher, sie würde bald eine Antwort auch auf diese Frage erhalten. Den Lebensmut hatte sie jedenfalls nicht verloren, es waren nur die Zweifel, die mit spitzen Zähnen an ihr nagten, weil sie nicht wusste, wie ihre Zukunft aussehen würde. Und diese Zukunft, das waren die kommenden Tage und Wochen. Unsicherheit. Machtlosigkeit. Rolf Lura hatte schon viele perfide Spiele gespielt, aber irgendwie traute sie ihm nicht zu, es
Weitere Kostenlose Bücher