Das Verlies
Liebe, die sie für ihn empfand, obwohl er sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr angerührt hatte, was aber vor allem an ihr lag. Er küsste sie auf die Wange oderdie Stirn, manchmal nahm er sie auch in den Arm, aber das, wonach sie sich sehnte, das hatte er ihr lange nicht mehr gegeben, weil sie es nicht zuließ. Ihn zu spüren war das schönste Gefühl, das sie sich vorstellen konnte, doch da war eine Blockade, die sie hinderte, seine Berührungen entgegenzunehmen. Und jetzt war da vermutlich eine andere Frau an ihre Stelle getreten, eine Frau, mit der er all das machte, was er früher mit ihr gemacht hatte. Welche Frau das auch immer war, Corinna Becker beneidete und hasste sie zugleich. Und sie hasste sich selbst.
Sie setzte sich in seinen Sessel, der Alkohol zeigte Wirkung. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Du verdammter Mistkerl, warum tust du mir das an? Bin ich dir nicht mehr attraktiv genug? Ich bin doch erst vierunddreißig und kann es mit diesen jungen Dingern immer noch aufnehmen. Ich habe schöne Brüste, ich bin nicht fett, aber dass ich dir nicht geben kann, was du verdienst, ist doch nicht meine Schuld. Doch, es ist meine Schuld, ganz allein meine Schuld. Ich liebe dich, ich liebe dich – und ich hasse dich! Aber ich kann ohne dich nicht leben. Komm nach Hause, bitte, bitte, bitte. Ich mach dir auch keine Vorwürfe, ich habe dir nie welche gemacht. Du siehst verdammt gut aus, und ich weiß, dass sich andere Frauen nach dir umdrehen, aber
ich
bin deine Frau! Du bist mit
mir
verheiratet. Und wenn ich jetzt trinke, dann nur wegen diesem beschissenen Zustand. Aber ich bin keine Alkoholikerin, ich war noch nie betrunken, und ich werde mich auch nie betrinken. Ich habe mich immer unter Kontrolle – außer in Situationen wie dieser. Wo bist du bloß?! Wer ist diese andere Frau? Werner, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich! Ich verspreche dir, alles zu tun, damit es wieder so wird wie früher. Es war doch kein Zufall, dass wir uns getroffen haben, es gibt keine Zufälle. Ich habe dich gesehen und mich unsterblich in dich verliebt. Und bei dir war es nicht anders. Bitte, lass die andere gehen. Ich brauche dich wie die Luft zum Atmen. Weißt du noch, als wir uns das erste Mal geliebt haben? Es war der schönste Moment in meinem Leben. Und dann kamenso viele schöne Momente. Ich habe dich unterstützt, als du dich selbständig gemacht hast, ich war immer für dich da. Aber jetzt brauche ich dich. Komm zurück zu mir, bitte. Und außerdem, du hast vorhin noch beteuert, dass du mich liebst. Warum sagst du so was und gehst danach zu deiner kleinen Hure? Warum?
Sie blieb noch eine halbe Stunde sitzen, ging in die Küche, aß eine Banane und legte sich wieder ins Bett. Obwohl sie müde war, konnte sie nicht schlafen. Nach einer Weile stand sie erneut auf, trank noch ein Glas Cognac und hoffte, dieser Albtraum würde bald zu Ende gehen. Ein Albtraum mit vielen Facetten. Sie schlief im Sessel ein, wachte aber schon zwei Stunden später wieder auf. Ruhelos lief sie im Haus auf und ab. Der kleine Maximilian und seine zehnjährige Schwester Verena schliefen noch, aber in einer Stunde würde Verena aufstehen, um sich für die Schule fertig zu machen. Erst zehn Jahre, aber schon jetzt brauchte sie fast eine Stunde für die Morgentoilette. Ich darf mir Verena gegenüber nichts anmerken lassen, sie soll nicht denken, dass ich Angst habe und mir Sorgen mache. Es muss ein Morgen sein wie jeder andere auch. Ich schaffe das, ja, ich werde es schaffen.
Sie fühlte sich wie gerädert, hatte sie doch kaum geschlafen und vielleicht ein Glas zu viel getrunken. Es würde ein grässlicher Tag werden. Die Kopfschmerzen, die sie in letzter Zeit so häufig attackierten, machten sich bereits jetzt mit leichten Stichen in der Schläfe bemerkbar, und irgendwann würden sie in Migräne übergehen. Warum kommst du bloß nicht nach Hause?, dachte sie mit einem bitteren Zug um die Mundwinkel, schielte nach der Cognacflasche, schüttelte aber den Kopf. Nicht jetzt, ich darf jetzt nichts trinken. Stattdessen ging sie in die Küche und trank eine halbe Flasche Wasser. Ich werde diesen Tag überstehen, und ich werde dich nicht fragen, wo du gewesen bist. Ich werde auch nicht in deinem Büro anrufen, denn dorthin wirst du vermutlich gehen, nachdem du bei der andern aufgewacht bist.Ist dies das Ende unserer Ehe? Fängt es so an? Aber warum hast du mir vor ein paar Stunden noch gesagt, du würdest mich lieben? Sagt man so etwas,
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