Das Verlies
gewonnen?«
»Du meine Güte, was für ein Bild? Extrem gewalttätig gegenüber Schwächeren, in seinem Fall vornehmlich Frauen, perverse Neigungen, Pedant, Tyrann … Suchen Sie sich noch ein paar nette Dinge aus, sie treffen mit Sicherheit auf ihn zu.«
»Das hört sich nicht sehr freundlich an …«
»Es geht noch weiter. Wenn es stimmt, was sein Bruder und seine Frau über ihn sagen, dann ist er durch und durch ein Muttersöhnchen, und der Eindruck, den die Mutter auf mich gemacht hat, bestärkt mich in dieser Meinung nur. Ich bin überzeugt, der hätte sich nie mit Männern angelegt, zumindest nicht körperlich. Kommen wir zum Positiven. Er ist ein überaus erfolgreicherGeschäftsmann und beliebt bei den meisten seiner Angestellten. Das sind aber auch die einzigen Pluspunkte, die wir bis jetzt über ihn in Erfahrung bringen konnte. Oder bist du anderer Meinung?«
»Nein«, sagte Hellmer, der aufmerksam zugehört hatte und sich auf die Schreibtischkante gesetzt hatte. »Für meine Begriffe ist er tot, fragt sich nur, wer ihn getötet hat und wo seine Leiche ist. Ich hab letzte Nacht noch mal alles Revue passieren lassen und denke, dass seine Frau doch was damit zu tun hat. Und eventuell Becker. Wenn nicht, fangen wir wieder bei null an.«
»Wenn ich Sie so reden höre, zieht also keiner von Ihnen mehr in Erwägung, dass er noch leben könnte?«
»Sehr unwahrscheinlich. Potenzielle Entführer hätten sich längst bemerkbar gemacht, und dass er einfach abgehauen ist, passt nicht in sein bisheriges Verhaltensmuster. Wie gesagt, er ist ein Pedant, und eine solche Eigenschaft legt man nicht mal so eben beiseite. Nee, der liegt irgendwo im Wald oder auf ’ner Müllhalde.«
Sie steckte sich eine Zigarette an, inhalierte und wollte gerade fortfahren, als Kullmer sich zu Wort meldete: »Julia, ich will ja deine Mordtheorie nicht in Frage stellen, aber wenn Lura umgebracht wurde, weshalb hat man dann sein Auto in Höchst abgestellt? Man hat Blut und Haare im Wageninnern gefunden, also muss er in dem Auto auch transportiert worden sein. Verstehst du, was ich meine?«
»Nicht ganz.«
»Pass auf. Ich bringe dich um, wickle dich in einen Teppich oder pack dich in einen Plastiksack, leg dich in den Kofferraum deines eigenen Autos, entsorge dich irgendwo im Unterholz und stelle dein Auto anschließend in Höchst ab. Wo ist der Sinn? Wenn ich es wirklich wie ein perfektes Verbrechen aussehen lassen will, dann plane ich dieses Verbrechen so akribisch, dass garantiert keine Fasern, Haare oder Blut nachzuweisen sind. Ich würde zum Beispiel die Ledersitze direkt nach der Tat reinigen,den Kofferraum vorher komplett mit Plastikfolie auslegen und dann, nach getaner Arbeit, das Auto woanders hinstellen, so dass es aussieht, als hätte er es selber gefahren. Sollten Becker und die Lura was damit zu tun haben, ich glaube, die hätten sorgfältiger gearbeitet.«
»Und wenn er in seinem Auto überfallen und niedergeschlagen wurde?«
»Und weiter?«
»Na ja, er wird zum Beispiel mit vorgehaltener Waffe gezwungen, in ein Waldstück zu fahren. Dort zieht man ihm erst eins über die Rübe, erschießt oder ersticht ihn, legt ihn in den Kofferraum und …« Sie stockte und blickte ratlos in die Runde.
»Und?«, sagte Kullmer und beugte sich nach vorn. »Das ist die Krux an der Sache. Würde ich dich mit vorgehaltener Waffe zwingen, in ein Waldstück zu fahren, und dir eins über den Schädel braten und so weiter, warum sollte ich dich nicht gleich dort auch ablegen? Warum erst in den Kofferraum, dann vielleicht sogar noch in ein anderes Auto? Die Frage stelle ich mir seit gestern schon. Das ist wie der Gordische Knoten.«
»Wir haben aber kein Schwert, mit dem wir ihn durchtrennen können. Doch deine Überlegungen sind nicht verkehrt. Nur bringen die uns kein Stück weiter.«
»Vielleicht doch«, bemerkte Seidel. »Lura hat nach Angaben seiner Frau das Haus um acht verlassen. Was, wenn er aber nicht allein losgefahren ist, sondern seine Frau bei ihm war? Sie hat sich vorher mit Becker besprochen, an welcher Stelle es geschehen soll. Becker hat nur wenige Meter weiter geparkt, sie hat ihrem Mann eine Pistole an die Schläfe gehalten und ihn gezwungen, an die Seite zu fahren. Becker ist zugestiegen, hat ihn an einen bestimmten Ort dirigiert, ihm eins übergebraten, ihn in den Kofferraum gelegt und ist noch ein bisschen weitergefahren, bis zu der Stelle, wo sie ihn deponiert haben, wo immer das auch sein mag, aber es kann nicht allzu
Weitere Kostenlose Bücher