Das Verlies
wenn man Schluss machen will?
Die elenden Gedanken kreisten in ihrem Kopf immer weiter, malten die düstersten Bilder, doch im nächsten Moment beruhigte sie sich wieder. Ich liebe dich, dachte sie, ich werde dich immer lieben. Und was auch kommt, ich werde zu dir stehen, denn du sollst wissen, ich bin die Frau, auf die du dich verlassen kannst. Sie ging ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett und starrte an die Decke. Sie war nicht müde, sie war nur aufgeregt. Ich muss mit ihm sprechen, dachte sie, irgendwann muss ich mit ihm sprechen. Irgendwann. Sie blieb eine halbe Stunde liegen, stand auf und zog sich an. Sie würde wie jeden Morgen den Frühstückstisch decken, und sollte Verena fragen, wo ihr Vater sei, würde Corinna Becker antworten, er habe heute früher in die Kanzlei fahren müssen. Ja, das würde sie sagen.
Donnerstag, 6.50 Uhr
Julia Durant war wie so oft in den letzten Wochen aufgewacht, bevor der Wecker sie aus dem Schlaf riss. Ein Blick zur Uhr, kurz vor sieben. Sie legte sich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und wartete, bis das Uhrenradio ansprang. Sie gähnte ein paar Mal herzhaft, fühlte sich unausgeruht und dachte an den vor ihr liegenden Tag – die nochmalige Hausdurchsuchung bei Gabriele Lura, ein Besuch bei Werner Becker und Geschäftsfreunde und -partner von Lura befragen. Letzteres wollte sie aber Kullmer, Seidel und den anderen Kollegen überlassen. Sie würde sich mit Hellmer auf das direkte Umfeld von Lura konzentrieren. Als das Radio um Punkt sieben zu spielen begann, setzte sie sich auf, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, zog die Beinean und schlang die Arme darum. Sie sah zum Fenster, vermutlich würde es ein kühler und trüber Tag werden, falls der Wetterbericht von gestern Recht behalten sollte.
Sie warf die Bettdecke zur Seite, stand auf und ging ins Bad. Ein Blick in den Spiegel, da waren wieder diese tiefen Ränder unter den Augen, die ihr verrieten, dass das Alter auch vor ihr nicht Halt machte. Einige Monate waren vergangen, seit sie sich von ihrem Freund getrennt hatte, einige Monate, in denen sie nicht einmal einen One-Night-Stand hatte. Ihr Hormonhaushalt war durcheinander, ihre Tage schon zum zweiten Mal längst überfällig, obwohl sie die Pille nahm. Doch bevor sie in Depressionen verfiel, was ihr bescheidenes Leben betraf, wusch sie sich die Haare, fönte sie trocken und putzte sich die Zähne. Im Schrank hing eine frisch gebügelte Jeans, die sie zusammen mit einem leichten Pullover anzog. Sie holte die Zeitung aus dem Briefkasten, während das Kaffeewasser kochte. Die Meldung stand im Lokalteil, ein kurzer Bericht über den verschwundenen Autohändler Rolf Lura, mit Angabe einer Telefonnummer der Polizei, bei der mögliche Zeugen anrufen konnten, die vielleicht am Dienstag etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen hatten. Allerdings glaubte Durant nicht, dass brauchbare Hinweise eingehen würden. Wer interessiert sich schon für einen Mercedes, der am helllichten Tag in einer Einkaufsstraße geparkt wird?, dachte sie, aß eine Schüssel Cornflakes mit Milch und trank eine Tasse Kaffee. Um kurz vor acht verließ sie die Wohnung, um sich auf den Weg ins Präsidium zu machen. Die Arbeit würde sie von ihren privaten Problemen ablenken. Vielleicht ergab sich ja am Abend die Möglichkeit, mit ihrem Vater zu telefonieren und sich einmal mehr den Kummer von der Seele zu reden. Auch wenn er es schon tausendmal oder öfter gehört hatte, aber er war immer noch ein geduldiger Zuhörer, der einzige Mensch, auf den sie sich bedingungslos verlassen konnte. Es gab Tage, und dieser war einer davon, da überlegte sie, ihren Job an den Nagel zu hängen und wieder zurück in den kleinen Ort ihrer Kindheitund Jugend zu fahren und für immer dort zu bleiben. Und dann wieder gab es Tage, an denen sie Frankfurt und ihren Beruf liebte und voller Energie war.
Im Auto drehte sie das Radio auf volle Lautstärke, um sich abzulenken. Doch ihre Gedanken kreisten in einem fort um Rolf Lura und was mit ihm geschehen war. Sie hatte in der Vergangenheit schon häufig mit Vermisstenfällen zu tun gehabt, doch dieser gehörte in die Kategorie der sehr außergewöhnlichen. Bislang gab es nur zwei Personen, die mit seinem mysteriösen Verschwinden in Verbindung gebracht werden konnten, seine Frau und Werner Becker. Sie hoffte, spätestens nach einem intensiven Gespräch mit ihm mehr über Lura zu erfahren. Und sie erhoffte sich Aufschluss darüber zu bekommen, ob er
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