Das Verlies
neugierig.
»Wir unterhalten uns nur ein wenig mit ihr«, log Hellmer. »Wir gehen auch gleich wieder. Tschüs dann.«
»Hm, tschüs«, sagte Verena und kickte die Tür mit dem Absatz zu.
Corinna Becker hatte sich, als Hellmer wieder nach unten kam, einigermaßen gefangen. Sie wischte sich die Tränen mit mehreren Taschentüchern ab, saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln, und hielt sich an einem Taschentuch fest. Julia Durant bedeutete Hellmer, sich kommentarlos zu setzen. Sie selbst schwieg auch und wollte abwarten, bis Corinna Becker bereit war, ein paar Fragen zu beantworten. Sie schnäuzte sich und schaute die Kommissarin aus rot geweintenAugen an. Ihre Mundwinkel zuckten noch immer, als sie sagte: »Warum sind sie im Auto verbrannt?«
Julia Durant warf einen hilflosen Blick zu Hellmer, der kaum merklich mit den Schultern zuckte.
»Sie haben sich das Leben genommen.«
Ein kurzer Moment absoluter Stille entstand, Corinna Becker sah Durant wie einen Geist an, dann lachte sie auf. »Bitte was? Mein Mann soll sich das Leben genommen haben? Niemals! Sie haben meinen Mann nicht gekannt, sonst würden Sie so etwas nicht sagen. Werner hing am Leben wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. Er liebte seinen Beruf und … Nun, mich hat er wohl nicht so sehr geliebt, wie er es mir so oft gesagt hat. Aber das ist wohl meine Schuld, ich bin keine einfache Frau. Früher war das anders, aber seit ich mit Maximilian schwanger war, habe ich mich verändert, oder besser gesagt, da hat sich etwas in mir verändert, und Werner ist damit nicht klargekommen, was ich ihm auch nicht verdenken kann. Deshalb hat er sich wohl eine Geliebte zugelegt. Aber dass es ausgerechnet Gabriele war!« Sie hielt inne und sah Durant fragend an. »Sind Sie wirklich sicher, dass sie sich das Leben genommen haben? Sie haben sich einfach so bei lebendigem Leib verbrannt? Das glaube ich nicht, denn Werner hatte Angst vor dem Tod. Einmal hat er gesagt, er würde am liebsten ewig leben. Und noch etwas – Werner hatte panische Angst vor Schmerzen. Schon wenn er einen Zahnarzttermin hatte, mein Gott, er hat ihn manchmal fünf- oder sechsmal verschoben, bis er endlich den Mut fand hinzugehen. Nein, ich glaube Ihnen das nicht«, sagte sie mit Nachdruck.
»Wie es aussieht, haben sich Ihr Mann und Frau Lura, bevor sie verbrannt sind, erschossen.«
»Das wird ja immer schöner! Erstens hatte Werner gar keine Waffe, auch wenn er als Anwalt Anspruch auf eine gehabt hätte. Und zweitens, er hasste Gewalt in jeglicher Form, und dazu gehörte auch seine Abneigung gegen Waffen. Auch wenn er Anwaltwar, er hat immer für das Recht gekämpft und keine Sachen gemacht, die ruchlos gewesen wären. Er hatte ein sehr hohes ethisches Empfinden und hat nur Fälle übernommen, die er auch mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Vor einigen Jahren trat ein Klient an ihn heran, der von ihm verteidigt werden wollte, weil er den Geliebten seiner Frau umgebracht hatte, aber mein Mann hat diese Bitte strikt abgelehnt. Er wollte nie Strafverteidiger werden, weil ihm das viel zu schmutzig war. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Mein Gott, was soll ich bloß ohne ihn machen?«
»Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten schon länger gewusst, dass Ihr Mann eine Affäre hatte. Können Sie das konkretisieren?«
Corinna Becker zuckte mit den Schultern und meinte: »Ich habe es geahnt, aber nicht gewusst. Vor einem halben Jahr habe ich es zum ersten Mal vermutet. Aber es war halt nur eine Vermutung. Er hat mich seit der Geburt von Maximilian nicht mehr angerührt, doch das lag weniger an ihm als an mir, weil ich … Was bringt es schon, wenn ich es Ihnen erzähle, das macht ihn nicht wieder lebendig. Wäre ich doch nur ein klein wenig liebenswerter gewesen, dann wäre das alles nicht passiert. Es ist ganz allein meine Schuld, ich bin für seinen Tod verantwortlich. Was habe ich bloß angerichtet?!« Sie schloss die Augen und fing wieder an zu weinen.
»Frau Becker, Sie tragen keinerlei Schuld am Tod Ihres Mannes …«
»Doch, das tue ich. Er und Gabriele könnten beide noch leben, wenn ich nicht gewesen wäre. Alles habe ich kaputtgemacht. Alles, aber auch wirklich alles! Ich habe mich von ihm entfernt, und er hat keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als … Und soll ich Ihnen was sagen – als Sie vorhin unten am Tor gestanden haben, da wusste ich, dass meine schlimmsten Befürchtungen Wahrheit geworden sind. Ich war letzte Nacht so ruhelos wie seit ewigen Zeiten
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