Das verlorene Gesicht
zerbrechen, würde sie sich auf nichts anderes konzentrieren können. Also zurückgehen und sehen, ob Gary Hilfe brauchte. Diese Sache irgendwie durchstehen und dann in ein normales Leben mit normalen Problemen zurückkehren. Sie drehte sich um und ging durch den Korridor zum Labor.
Kessler blickte auf, als sie eintrat. »Alles in Ordnung?« »Klar. Ich brauchte nur ein bisschen Luft. Wie kommen Sie voran?« »Nicht gut.« Er betrachtete den Backenzahn, den er
gerade zerschnitt. »Der arme Teufel wird noch völlig zahnlos sein, bevor ich genug Material zusammenhabe. Das ist schon der dritte, den ich aufschneide.«
»Brauchen Sie meine Hilfe?« »Damit Sie die Lorbeeren mit mir teilen können?« Sie lächelte. »Ich verspreche, ich werd’s keinem verraten.« »Klar. Das hab ich schon oft genug gehört. Gehen Sie.« »Wie Sie wünschen.« Aber sie rührte sich nicht von der
Stelle und sah zu, wie er vorsichtig durch den Zahnschmelz schnitt. »Ich habe nachgedacht. Wenn wir die Probe erst einmal haben, sollten Sie vielleicht besser für eine Weile von der Bildfläche verschwinden. Sie könnten in Ihr Haus an der Küste fahren.«
»Ah, Sie versuchen wohl, meinen Hals zu retten, was?
Haben Sie etwa Schuldgefühle?« »Ja.« »Richtig so. Ein bisschen Schuldgefühle zu haben, ist
gut für die Seele.« Er konzentrierte sich auf den Zahn. »Bilden Sie sich bloß nicht ein, ich würde das für Sie tun. Dieser Job wird mich zum Star machen. Ich wollte schon immer mal im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.«
»Deswegen arbeiten Sie wie der Teufel und leben wie ein Einsiedler.«
»Gleichgesinnte erkennen einander. In fünfzig Jahren werden Sie wahrscheinlich in Ihrem Labor wohnen und kalte Pizza essen.«
»Und vorgeben, ich träumte davon, berühmt zu werden? Geben Sie’s zu, Sie sind einfach neugierig.«
»Zum Teil.« Vorsichtig begann er, den Zahn zu öffnen. »Und der Rest?« »Wussten Sie, dass ich meine Kindheit in den dreißiger
Jahren in München verbracht habe?« Sie schüttelte den Kopf und sah ihn verblüfft an. »Sie haben nie darüber gesprochen.« »Nein, wir sprechen nur über unsere Arbeit, nicht wahr? Die Knochen, die Toten …« Er rückte seine Brille auf der Nase zurecht. »Meine Mutter war Jüdin, aber mein Vater war ein reinrassiger Arier mit guten Beziehungen zu hohen Tieren in der Regierung. Die Nazis setzten ihn unter Druck, sich scheiden zu lassen, aber er weigerte sich. Er besaß eine kleine Bäckerei und zwei Monate lang musste er jeden Tag neue Fensterscheiben einsetzen, weil sie ihm eingeschlagen wurden. Er hielt durch und weigerte sich weiterhin, sich scheiden zu lassen. Dann, eines Abends, kam er nicht aus dem Laden nach Hause und man sagte uns, er sei von einem Lastwagen überfahren worden. Er verlor ein Bein und verbrachte neun Monate im Krankenhaus. Bis er wieder entlassen wurde, war alles vorbei. Die Bäckerei war geschlossen worden und die Nazis hatten angefangen, die Juden zu deportieren. Es gelang uns, in die Schweiz und später nach Amerika zu entkommen.« »O Gott, das ist ja schrecklich, Gary. Es tut mir Leid.« »Mir tat es nicht Leid. Mich machte es wütend. Ich beobachtete diese Hurensöhne, wie sie durch die Straßen marschierten und alles überrannten, was sich ihnen in den Weg stellte. Bluthunde. Sie zerstörten alles, was mein Leben lebenswert gemacht hatte. Gott, ich hasse diese Typen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Schädels. »Und die Leute, die das getan haben, sind genauso wie die verdammten Nazis, die die ganze Welt unterwerfen wollten. Sie kotzen mich an. Ich will verdammt sein, wenn sie diesmal damit durchkommen.« Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Sie schluckte. »Gott, Gary, das klingt ja direkt nobel.« »Allerdings. Außerdem, das mag vielleicht mein Schwanengesang sein, aber ich will, dass man ihn laut und deutlich hört.« »Schwanengesang? Haben Sie vor, sich zur Ruhe zu setzen?« »Vielleicht. Ich bin schon über das Rentenalter hinaus. Ich bin ein alter Mann, Eve.« Eve schüttelte den Kopf. »Sie doch nicht, Gary.« Er kicherte in sich hinein. »Sie haben Recht, ich bin nicht alt. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich den jungen Draufgänger, der ich mit zwanzig war. Vielleicht ein paar Fältchen mehr, aber die fallen mir meistens nicht auf. Es ist wie die Überblendungen, die Sie machen. Egal, was in der oberen Schicht zu sehen ist, dieser junge Mann ist darunter und ich weiß, dass er da ist. Glauben Sie, jeder
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