Das verlorene Ich
Stapel ausgewählt, weil es nicht nur das Haus am deut-lichsten zeigte, sondern außerdem einen Teil der unmittelbaren Nachbarschaft. Sie hielt die Aufnahme so, daß sowohl der Fahrer des Cabbys als auch sie selbst einen ausführlichen Blick darauf werfen konnte.
Kein Zweifel, dachte sie, die Umgebung stimmt. Nur das Haus wurde abgerissen. Und der Garten ist völlig verwahrlost.
»Tut mir leid«, sagte der Chauffeur. »Ich habe das Haus nie selbst gesehen, obwohl ich häufig hier vorbeikam, als es noch stand. Die Bäume hatten es verdeckt. Hier war alles zugewuchert. Kein Vergleich zu heute ...«
»Woher wollen Sie dann wissen, daß es ein Haus gab?«
Von jenseits der Spiegelgläser, die Lilith verhöhnten, haftete immer noch der Blick an ihr. Ein Blick voller Mißtrauen. Sie fühlte ihn wie zwei Egel, die sich an ihren Augen festsaugten.
»Wegen all der Vorkommnisse, die Schlagzeilen machten.«
»Vorkommnisse?«
»Es ist schon ein, zwei Jahre her.«
»Was denn?«
Einen Moment sah es so aus, als wollte er sich abwenden und sie zum Aussteigen auffordern. Doch als sie ein zweites Mal sehr eindringlich bat, ihr alles zu sagen, was er darüber wußte, meinte er: »Man weiß ja, was die Medien aus so etwas machen: Hauptsache, sie haben ihre Story und können damit ihre Einschaltquoten oder die Zeitungsauflage für ein paar Tage puschen . Na ja, Sie scheinen wirklich nicht von hier zu sein, sonst müßten sie nicht fragen. Das Ganze schlug damals ganz schöne Wellen, auch wenn es nie eine offizielle Stellungnahme dazu gab. Dafür um so mehr Gerüchte - und Typen, die sich, vermute ich mal, wichtig machen wollten. Solche Leute gibt es immer .«
»Und was ist nun passiert?« fragte Lilith ungeduldig.
Er schürzte die Lippen. »Wie gesagt: Das meiste, was ich sagen kann, fußt auf Gerüchten. Sicher ist nur: Eine ganze Zeitlang war dieser Bereich der Straße großräumig gesperrt. Mit allem Brimbam-borium, Armee, Polizei, was weiß ich noch alles. Als die Sperre endlich aufgehoben wurde, sah es hier, bei der dreihundertdreiunddrei-ßig, ähnlich aus wie heute, vielleicht noch eine Spur schlimmer: als hätten Bagger und Planierraupen den schönen wilden Garten umgemäht und untergepflügt! Das stach jedem, der die Straße kennt, sofort ins Auge, und deshalb war es nicht schwer zu schlußfolgern, daß die lange Sperre mit etwas zusammengehangen hatte, was hier geschehen war ... Aber fragen Sie mich nicht, was. Natürlich gab es auch dazu haarsträubende Gerüchte: Es soll ein paar Cops das Leben gekostet haben, auch Zivilisten, Leute, die im Umkreis wohnten oder vor Ort Untersuchungen anstellten. Das Verrückteste, was in diesem Zusammenhang die Runde machte, waren Berichte von Menschen, die hinter den Absperrungen um Jahre - um viele Jahre -gealtert sein sollen. Da ging mit einigen gehörig die Phantasie durch ... Na ja, danach wurde es wieder ruhig, bis eines Tages die Bauarbeiten begannen.«
»Bauarbeiten?«
Er nickte und tippte sich gleichzeitig an die Stirn. »Die zuständige Behörde muß einen Sprung in der Schüssel gehabt haben, sonst hätte sie nicht genehmigen können, daß jemand in einem Viertel, wo sonst nur hübsche alte Villen mit viel Grün stehen, ein Hochhaus errichtet. Zwölf Stockwerke wurden hier hochgezogen! So schnell hab' ich noch keinen Bau wachsen sehen! Da hat jemand tüchtig mit dem Geldmuskel gespielt. Ich schätze mal, hinter den Kulissen wurde auch gut geschmiert, sonst hätte das Gebäude nicht innerhalb einiger Monaten bezugsfertig da gestanden!«
Ein Hochhaus? Zwölfstöckig?
Kopfschüttelnd blickte Lilith auf das schon etwas verblaßte Schwarzweißbild in ihrer Hand. Es war eine Luftaufnahme, die sowohl das Haus als auch den parkartigen Garten zeigte, von dem der Chauffeur gesprochen hatte.
»Haben Sie den Neubau selbst gesehen?« fragte sie.
Der etwa vierzigjährige Fahrer des Cabbys nickte. »Ich hatte Glück - oder wie immer man es nennen mag.«
»Was meinen Sie damit?«
Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Grundstücks. »Sehen Sie doch hin, dann wissen Sie es: Der architektonische Schandfleck hielt nicht lange. Eines schönen Tages - ich fuhr die Straße entlang und begriff im ersten Moment wohl gar nicht, was ich vermißte - war er weg. Einfach verschwunden ...!«
»Ein Hochhaus verschwindet doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts!« Lilith schob das Bild brüsk in die Tasche zurück und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. »Ich weiß nicht, warum Sie
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