Das verlorene Kind
Stubentür zurück, doch als er sah, daß
die Klinke, von innen niedergedrückt, sich bewegte, stürzte er davon,
lief in den strömenden Regen hinein, hetzte über den Hof und, ohne sich
umzusehen, durch die Felder in den Wald. Hier hielt er inne, wischte
sich das Haar aus dem Gesicht und fühlte mit Behagen, wie der warme
Regen in weichen, kleinen Bächen vom Nacken her seinen Rücken
entlanglief, so daß er lachen mußte. Unter dem Schutz der Bäume ging er
bis zur Landstraße, seine bloßen Füße bei jedem Schritt in das vom
Regen neu aufschwellende Moos mit wohligem Gefühl eindrückend. Auf der
Landstraße angelangt, zog er seinen Rock aus, schlug ihn über Kopf und
Schultern und lief in gleichmäßigem Trab bis nach S., wo er müde und
durchnäßt ankam. Dort traf er einen Knecht, der ihn auf seinem Wagen
bis kurz vor Pl. mitnahm, wo er um die Zeit des Abendessens eintraf. Er
schlüpfte in seine Kammer, zog ein trockenes Hemd und seine
Sonntagshosen an und trug die nassen Kleider in den Pferdestall zum
Trocknen. Dann trat er in die Stube ein. Das Gesinde hatte schon
abgegessen, nur der Schultheiß saß noch am Tisch, sah aber nicht zu ihm
auf. Fritz, von Hunger und Müdigkeit ganz benommen, durch die
Anwesenheit des Herrn verwirrt, begann zu sprechen: »Ich kann nicht
dafür, wenn die Arbeit liegenbleibt. Den ganzen Tag haben die nichts zu
tun, als einen zu fragen.« Der Schultheiß sagte nichts, sah ihn nicht
an. Die Magd brachte ihm eine große Schüssel voll Suppe, Fritz lachte
und begann gierig zu essen. Plötzlich schnellte der Herr über den Tisch
herüber, seine funkelnden, kleinen Augen waren dicht vor den Augen des
Jungen, als dieser erschrocken vom Essen aufsah, doch seine Stimme war
gedämpft, freundlich, vertraulich lockend: »Na, nun sage doch, was
wollten denn die von dir?«
Fritz bog seinen Kopf zurück und sagte mit lauter Stimme:
»Ach, die hören jeden ab, ob er die kleine Anna nicht gesehen hat.«
»Brauchst doch nicht so laut zu schreien!« sagte der
Schultheiß und zog sich langsam wieder zu seinem Platz zurück. Fritz aß
weiter. Der andere sah ihm zu. Dann rückte er von neuem ganz nahe an
ihn heran und schmeichelte von neuem: »Na, Fritz, wenn du da nur nichts
damit zu tun hast! Weißt du, dann kriegen sie dich doch!«
»Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe nichts getan, ich weiß
nichts.«
»Ja, aber Fritz, du sahst doch gestern so verstört aus?«
Fritz schwieg und blickte auf. Der Herr hatte sich weit über
den Tisch gebeugt, sein Kopf war von dem Höcker seines Rückens hoch
überragt, das Gesicht zu einem schmeichlerischen Lächeln verzogen, die
Augen aber stachen feindselig nach ihm. Vor dem Blick erschrak Fritz.
Jetzt sprach auch er leise, als er sagte: »Ach, das tat ich doch nur
so.« Er legte den Löffel hin und stand auf.
»Iß doch fertig!« rief der Herr plötzlich laut und lebhaft.
»Iß doch fertig. Wenn du nichts getan hast, kannst du doch fertig
essen.«
Fritz kehrte langsam zum Tisch zurück, setzte sich und sprach:
»Immerzu wird bloß von der Anna geredet.«
»Na ja, du kannst da doch viel erzählen, was?«
»Ich kann da gar nichts erzählen, ich weiß davon nichts.«
»Na, dann ist es ja gut«, sagte der Herr und stand vom Tische
auf, während Fritz zu Ende aß.
Während der nächsten Woche geschah nichts. Obwohl Fritz ganz
furchtlos war und die Erinnerung an das Verhör und die Leiche ihn nicht
bedrückte, zeigte er sich doch die ersten Tage nach diesem Geschehnis
sehr still und in sich gekehrt. Ihn bewegte das unverhoffte Wiedersehen
mit der Heimat, den Feldern, Wiesen, dem Hof mit Scheunen und Ställen.
Das alles war doch so verändert gewesen. Verlassen hatte der Hof
dagelegen, der Herr, die Mutter waren verschwunden gewesen, unsichtbar
verborgen irgendwo hinter Türen hatten sie wohl auf ihn gesehen. Die
Menschen waren vor ihm geflohen, vor ihm, der bisher die Menschen
geflohen hatte. Das schreckte ihn mehr als alles. Er fühlte, daß die
Welt verwandelt war, daß in seinem Leben sich etwas änderte. Wenn in
Treuen der Herr nicht mehr Herr war, fremde Leute im Wohnzimmer sich
breitmachten, irgendein Herr aus der Stadt, der nicht einmal eine
Uniform anhatte, an Stelle des richtigen Herrn ihn anschrie und zur
Rede stellte, dann konnte er auch nichts dagegen tun, wenn sie etwas
mit ihm vorhatten. So dachte er. Verdrossen und verzagt ging er seiner
Arbeit nach, und erst am Sonnabend, als ihm
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