Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
Vom Netzwerk:
wieder Lohn ausgezahlt
wurde und er das Geld in seiner Ecke im Pferdestall vergrub, kam wieder
seine alte Heiterkeit über ihn. Am Sonntag, gegen Mittag, als er
gewaschen und geputzt an der Tür des Pferdestalles lehnte, wollte er
singen. Doch seine schöne, helle, sanfte Stimme schien versiegt, die
Kehle schmerzte ihn, mühsam brachte er nur ein paar dünne, hohe Töne
hervor; erstaunt und traurig verstummte er. Wieder fühlte er sich
gehetzt, angegriffen und verfolgt, von Feindschaft umstellt, und
trotzig begann er wenigstens zu pfeifen. Da trat plötzlich, hinter
seinem Rücken auftauchend, der Schultheiß vor ihn hin: »Na, Fritz, du
willst unschuldig sein und hast dir doch die Hände binden lassen?«
    Doch Fritz erschrak nicht. Er pfiff einen langen Ton zu Ende
und sagte: »Ach, das war ja gar nicht richtig, sie haben sie gleich
wieder aufgemacht.«
    »Na, siehst du, jetzt hast du gelogen, merk' dir das«, sagte
der Schultheiß und ging mit schnellen, kleinen Schritten wieder davon.
Fritz sah ihm nach und pfiff, so laut er konnte, doch wich er von
diesem Tage an seinem Dienstherrn aus.
    Am Mittwoch kam ein Bote vom Gericht und bestellte Fritz für
Donnerstag nach L. in den Gasthof zum Kriminalkommissar. Man ließ
absichtlich Fritz den ganzen Tag allein und unbeschäftigt und
beobachtete ihn. Doch sein Gehaben verriet nichts Verdächtiges. Er kam
am nächsten Morgen aus seinem Pferdestall heraus, bürstete, fütterte
und tränkte seine Pferde, er frühstückte, zog sich dann seine
Sonntagskleider an, auch Schuhe an die Füße, und machte sich um neun
Uhr auf den Weg. Er ahnte nicht, daß auf seiner ruhig und gleichmäßig
fortgesetzten Wanderung im Abstand ein verkleideter Polizist ihm
folgte. Fritz ging, ohne auszuruhen, mit jugendlichen Schritten die
drei Stunden des Weges. Er sah weder nach rechts noch nach links, von
einem Fluchtversuch war nichts zu merken. In L. angelangt, meldete er
sich in dem kleinen Gasthof und fragte nach dem »Berliner Herrn«, weil
er auf der Vorladung »Kriminalkommissariat Berlin« gelesen hatte. Der
Wirt hieß ihn an einen Tisch niedersetzen und brachte ihm Bier und zwei
große Scheiben Butterbrot. Das hätte der Gerichtsherr so angeordnet.
Fritz, durstig und hungrig nach dem langen Weg, aß und trank. Plötzlich
trat ein Gendarm ein, und zwar nicht durch die Gaststubentür, die vom
Hausflur hereinführte, sondern durch eine Tür hinter dem Schanktisch,
und Fritz sah für einen Augenblick durch die geöffnete Tür in dem
anschließenden Raume einen Tisch ohne Decke, mit Papieren belegt, und
zwei Männer, die an dem Tisch saßen. Wut und Trotz stiegen in ihm auf,
er schob das Bier und den Rest des Brotes weit von sich. Der Gendarm
setzte sich mit wohlwollendem Lächeln zu ihm an den Tisch. »Na,
schmeckt's? Noch ein Bier?« fragte er.
    »Danke, habe keinen Durst mehr.«
    »Ach, trink mal ruhig noch eins, du hast ja einen langen Weg
gemacht.« Und der Gendarm winkte dem Wirt, der ihm ein frisches Glas
brachte. »Der Kommissar muß dann noch etwas mit dir sprechen, wir gehen
dann nebenan in die Stube. Du kannst dich aber noch ausruhen.«
    »Bin nicht müde.«
    »Na, desto besser. Warten mußt du aber doch noch, wir haben
noch keine Zeit für dich.« Und der Gendarm ging wieder hinaus. Fritz
saß allein in der Gaststube, in die an einem Werktagsvormittag wenige
Gäste kamen, nur ein paar Fuhrleute, die im Stehen ein Glas Bier
tranken, mit ihren rauhen Stimmen lärmten und wieder gingen. Sie
blickten neugierig auf Fritz, der in seinen Sonntagskleidern da saß,
und fragten den Wirt nach dem feinen Besuch. Doch der zuckte die
Achseln, er sagte nicht gern, daß das Gericht in seiner Stube vernahm.
In L. war Fritz nicht bekannt, doch die Blicke der Menschen steigerten
seine Wut. Er begann das zweite Glas Bier zu trinken und fühlte, wie
Hitze in seinen Kopf stieg, wie seine Adern anschwollen und seine Augen
brannten. Jetzt kam der Gendarm wieder herein und sagte ihm, nun sei es
bald so weit, aber er brauche doch nicht das abgestandene Bier zu
trinken, der Wirt solle ihm noch ein Viertel Wein geben. Doch den Wein
trank Fritz nicht. Seine Wut und sein Zorn wurden plötzlich kalt, Trotz
und Verachtung erfüllten ihn. Mit finsterem, völlig verschlossenem
Gesicht betrat er endlich die Stube, in der der Kommissar, am Tische
sitzend, ihn erwartete.
    »Ich habe Sie kommen lassen, um einige Lücken in unserem
vorigen Verhör zu

Weitere Kostenlose Bücher