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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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sanft, traurig legte er die Reise zurück und betrat
das Gefängnis. Er beachtete kaum seine neue Umgebung. Er war während
der Untersuchungszeit ruhig und ohne jedes Schuldbewußtsein. Nach und
nach wich auch seine Traurigkeit wieder, er pfiff und sang leise vor
sich hin in seiner Zelle, nur ab und zu überzog ein grüblerischer Ernst
sein schönes, kindliches Gesicht. Bei den Verhören war er aufmerksam,
klug und gewandt. Er antwortete in kurzen Sätzen und widersprach sich
nie. Er log nicht; konnte er die Wahrheit, die ihm selbst nicht klar
war, die er aber als Feind, als Gefahr für sein Leben ahnte, nicht
sagen, antwortete er: »Das weiß ich nicht, das kann ich nicht sagen.«
    Die Untersuchung erforderte einen ungeheuer großen Aufwand an
Arbeit, Zeit und Mühe. Der ganze voraufgegangene Prozeß gegen die
Zigeuner wurde von neuem aufgerollt, unzählige Zeugen und
Sachverständige in wiederholten Verhören vernommen, bis endlich die
Anklage formuliert werden konnte. Da der Angeklagte zur Zeit der Tat
noch nicht achtzehn Jahre alt war, wurde sie nicht einem Schwurgericht,
sondern einem Spruchgericht vorgelegt. Gestützt wurde die Anklage auf
direkte, durch Zeugen und Tatsachen begründete Beweisführung. Im Anfang
war auch die Mutter des Angeklagten wegen Verdachtes der
Mitwisserschaft beobachtet worden. Doch dieser Verdacht mußte wieder
fallen gelassen werden, auch ihre Zeugenschaft hatte bisher nicht viel
zur Klärung beigetragen, da sie die furchtbare Anschuldigung ihres
Sohnes durchaus nicht begründen wollte. Auch war die Mutter nicht zu
einer Begegnung mit ihrem Kind im Untersuchungsgefängnis zu bewegen,
von der man sich viel versprochen hätte. Dagegen erbot sich sein
Dienstherr, der Schultheiß Mandelkow, wiederholt freiwillig, mit ihm zu
sprechen und ihn zur Wahrheit zu ermahnen. Er kam dem Angeklagten mit
vertraulichem Lachen, mit Augenzwinkern und Scherzen entgegen,
versuchte durch freundschaftliche Ratschläge ihn zum Reden zu bringen.
Doch Fritz sah ihn ruhig und überlegen an, lachte nicht und sprach
nicht. Alle Versuche, den Angeklagten zu irgendeinem Geständnis zu
bewegen, waren also vergeblich, und während die Untersuchung am Tatorte
und die Protokolle der Zeugen die Anklage mehr und mehr erhärteten,
schien alles, wendete man sich an den Angeklagten selbst, wieder
zusammenzufallen vor dessen Ruhe und sicheren Aussagen.
    Die Zeit bis zur Verhandlung verging für Fritz sehr schnell.
Er arbeitete am Tage, aß wenig und erwartete mit Spannung die Verhöre.
Nachts schlief er tief auf dem harten Lager, von Zeit zu Zeit
durchwogten gestaltlose Träume seinen Schlaf. Dann erwachte er und fand
seine Hände in der Tiefe seines Leibes ineinander verstrickt,
eingekrampft in das eigene Fleisch, und während er sie
auseinanderlöste, schüttelte ihn das alte, lautlose, zischende Lachen.
Daß er in einer Zelle allein für sich leben mußte, erfüllte ihn mit
Zufriedenheit, ja mit Stolz. Er hielt seine Zelle sehr sauber und in
peinlichster Ordnung, richtete sein Bett genau nach der Vorschrift,
beschmutzte seinen Tisch nicht mit dem Eßgeschirr und hatte sich bald
so weit gebracht, daß er seine Notdurft nur abends verrichtete, kurz
ehe das Gefäß entleert wurde, so daß nichts von Geruch in seiner Zelle
zu merken war. Im November wurden ihm warme Kleider gebracht, die ihm
sein Herr, Christian B., schickte. Er legte sie sofort voll
kindlicher Freude an. So erschien er am ersten Verhandlungstage, in
nichts gegen früher verändert, außer daß sein schönes Gesicht manchmal
den Ausdruck sanfter Traurigkeit zeigte.
    Er nahm ruhig, fast mit bescheidenem Stolz, auf der
Anklagebank Platz, blickte sich aber nicht um, sondern verfolgte den
Gang der Verhandlung mit unermüdlicher Aufmerksamkeit.
    Die Verlesung der Anklage dauerte drei Stunden lang. Sie
entrollte noch einmal ausführlich von Anbeginn an das Schicksal der
kleinen Anna B., ihr Verschwinden, die Verfolgung der
Zigeuner, den Prozeß gegen diese und das Auffinden der Leiche in der
Scheune nahe dem elterlichen Hause. Begründet wurde die Anklage gegen
Fritz Schütt damit, daß er zuletzt mit dem Kind gesehen worden war, und
zwar in unmittelbarer Nähe der Scheune, in der es als Leiche
wiedergefunden wurde, daß er ferner von seiner Mutter in der fraglichen
Zeit mit einer Hacke in der Hand angetroffen worden sei, über deren
Gebrauch er keine genaue Angabe machen konnte, daß er keinerlei

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