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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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glauben Sie denn eine Strafe verdient zu
haben?«
    »Ich weiß nicht mehr, daß ich so etwas gesagt habe. Der Herr
war immer hinter mir her. Er hat mir gar keine Ruhe gelassen. Er hat
wohl hier wollen viel erzählen.«
    Der Schultheiß auf der Zeugenbank zischte wütend durch die
Zähne.
    Der Vorsitzende fuhr fort: »Aus welchen Gründen verließen Sie
Nacht für Nacht Ihre Kammer und schliefen statt im Bett auf Stroh im
Pferdestall?«
    »Das kann ich nicht sagen, es ist mir lieber so. Ich bin ja am
Tage auch bei den Pferden.«
    »Und warum vergraben Sie Ihren ehrlich ersparten Lohn unter
der Erde, statt ihn im Koffer aufzuheben wie alle anderen?«
    Fritz errötete. »Ich weiß nicht. Es ist unter der Erde besser
fort«
    »Wieso fort?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Vergraben Sie öfters Dinge, die fort sein sollen?«
    Fritz schwieg.
    »Wieso kamen Sie zu den Äußerungen Ihren Kameraden auf der
Domäne gegenüber, daß das Kind wohl nicht mehr zu finden und es wohl
gut verwahrt sei?«
    »Das war doch auch so.«
    »Aber woher wußten Sie das?«
    »Das dachte ich so.«
    »Haben Sie viel an das verschwundene Kind gedacht?«
    »Ach nein. Es war immer viel Arbeit.«
    Es folgte dann noch die Vernehmung der zwei Zeugen aus dem Prozeß gegen
die Zigeuner, die als glaubwürdig verblieben waren und unter Eid
nochmals aussagten: in der ihnen vorgelegten Photographie des Kindes
Anna B. mit der größten Bestimmtheit jenes Kind zu erkennen,
das sie bei den Zigeunerbanden gesehen hatten. Mit dieser für den
Angeklagten günstigen Zeugenvernehmung schloß der zweite Gerichtstag.
    Erschöpft, in tiefer Müdigkeit, schlief der Angeklagte vom
frühen Abend bis zum nächsten Morgen in ruhigem, traumlosem Schlaf,
während Richter, Verteidiger und Staatsanwalt in schlafloser Nacht von
neuem ein jeder sich wieder und wieder in die Akten versenkten, in
Eifer, Mühen und Sorgen sich auf den nächsten Tag vorbereiteten, der
das Urteil in diesem die Öffentlichkeit in so weitem Maße
beschäftigenden Prozeß bringen sollte.
    Am dritten Tag begannen die Verhandlungen um neun Uhr morgens
und dauerten bis zehn Uhr abends mit einer Pause von zwei Stunden.
Material, Verhöre, Zeugenaussagen häuften sich, der Eifer, die erhöhte
Arbeitswilligkeit, die nur durch unerhörte Kraftanstrengung bemeisterte
Ermattung der Richter schufen schon am frühen Vormittag eine
ungewöhnliche, fieberhafte Spannung im Gerichtssaal, gegen die die
Ruhe, das gleichmäßig heitere Antlitz des Angeklagten sonderbar abstach.
    Denn bisher hatte ihn nichts erschüttern, ja, nicht einmal
berühren können von dem, was von den Richtern verhandelt und verlesen
wurde, ihre Fragen und Mahnungen konnten ihn nicht erreichen. Denn
diese Welt, die feindlich, mit klaren Worten und Gesetzen gegen ihn
anstürmte, konnte nie der Spiegel der Wahrheit für ihn sein.
Unverständlich waren für ihn »Mord« und »Unzuchtsverbrechen«,
unverständlich waren ihm ja selbst die dunklen, bösen Gefühle, der
Rausch und die mörderische Wollust, die in seiner Seele verborgen
lagen. Das verschwundene Kind war ihm nicht mehr als ein versunkener
Schlaf, eine in Bewußtlosigkeit verträumte Umarmung. Die Leiche des
Kindes, die ausgebleichten Knochen und der hohle weiße Schädel hatten
ihn an nichts erinnert. Er hatte geliebt und hatte gemordet, doch er
wußte nicht, daß es zweierlei war, und er wußte nicht, daß er beides
getan hatte.
    Er fühlte wohl dunkel, daß er verloren sei, so wie die Welt
für ihn verloren war seit jenem Morgen, da man ihn von Schlaf und
Arbeit fortgerissen und ins Gefängnis gebracht hatte. Doch das Warum
fühlte er nicht. Daher sein dem Richter unverständlich hartnäckiges
Leugnen, seine Ruhe, seine Unbefangenheit, seine Heiterkeit.
    Jedoch am Nachmittage des dritten Verhandlungstages erschienen
Christian B. und die Mutter des Angeklagten als Zeugen. Von
diesem Augenblick an veränderte sich das Verhalten des Angeklagten
völlig. Er bewahrte zwar noch immer seine Ruhe, und die Erschütterung,
die sich bei dem Anblick der beiden auf seinem Gesicht zeigte, war noch
immer nicht die eines plötzlichen Schuldbewußtseins und konnte auch von
dem Richter nicht so gedeutet werden. Aber seine Augen, weit geöffnet,
von Erregung feucht und verdunkelt, wanderten halb gerührt, halb voll
Spannung von einem zum andern, bis sein Blick sich ganz und gar in das
Gesicht der Mutter vergrub. Er war erst errötet, nun erblaßte er

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