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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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tief.
    Das Gesicht der Mutter, von unzähligen, erst kurz verheilten,
noch geröteten Wunden zerschnitten, die als ewige Striemen über die
klare Stirn, die guten Wangen und das weiche Kinn gezogen waren,
bedeutete für ihn ein Schrecken, eine böse Drohung. Sie hatte nur einen
kurzen Blick auf ihn geworfen, schnell preßten sich ihr bittere Tränen
aus den Augen und rieselten heiß und schmerzend über das dornige Gewirr
ihrer Narben auf ihre Brust nieder. Da geschah das Seltsame, daß der
Sohn langsam die Hände zur Brüstung des Gitters hob, sie
ineinanderfaltete und mit flehendem Ausdruck, mit einer gespannten
Traurigkeit an den Lippen seiner Mutter hing.
    Es wurde aber zuerst Christian B. vernommen. Seine hohe, schon
so gebeugt gewesene Gestalt erschien wieder jung, aufgerichtet, seine
Schultern waren gereckt, schienen willig, Last und Sorgen von neuem zu
tragen, aber sein Gesicht, weiß umrahmt von Haar und Bart, war das
eines Greises. Die Haut war durchfurcht von Falten des Grames, der
erloschen war, die hohe Stirn zermürbt von Kampf ohne Sieg oder Gnade,
nur die Augen schienen noch lebend in einem sanften Glanz abgründiger
Demut, wenn die Lider, die schwer wie Grabdeckel sie bedeckten, sich
hoben.
    Er machte seine Aussagen mit ruhiger Stimme, ohne Erregung.
Über den Angeklagten befragt, sagte er, daß er ihn immer für einen
fleißigen, ehrlichen, nicht bösen Menschen gehalten habe.
    Der Vorsitzende: »Halten Sie nun nach allem, was sich ergeben hat, den
Angeklagten für schuldig?«
    Christian: »Ich will das nicht entscheiden. Ich bin kein
Richter.«
    »Sie haben ein Jahr lang die größten Opfer gebracht und mit
unendlicher Mühe die Nachforschungen nach Ihrem armen Kinde betrieben.
Würde es Sie nun nicht auch mit Genugtuung erfüllen, wenn das Gericht
endlich die Lösung des furchtbaren Unglücks findet und die entsetzliche
Tat nach Möglichkeit irdischer Gerechtigkeit sühnt?«
    Christian: »Nein, ich empfinde keine Genugtuung darüber, und
eine Erklärung für den Tod meines armen Kindes könnte ich auch in der
bewiesenen Schuld des Angeklagten nicht finden. Und keine Strafe kann
das sühnen.«
    Da sprang die Mutter plötzlich von der Zeugenbank auf, trat
neben ihren Herrn und rief mit lauter Stimme: »Er ist schuldig, strafen
Sie ihn, strafen Sie ihn, Sie müssen ihn strafen!«
    Ihre Narben glühten wie feurige Schlangen in ihrem Gesicht
auf, während Ströme von Tränen es überfluteten, ihr weinender Mund
ausgeweitet bebte. Auch der Angeklagte war aufgesprungen und starrte
nach der Mutter hin. Im Saal erhob sich ein Tumult, der Vorsitzende
rief zur Ruhe, und der Herr führte die Magd an ihren Platz zurück,
strich ihr beruhigend über Schultern und Arme. Der Verteidiger
beantragte eine Pause, damit die Zeugin sich beruhige, ehe sie ihre
schwerwiegende Aussage mache. Es trat die Pause von zwei Stunden ein.
Der Angeklagte wurde in die Zelle zurückgeführt, wo er unbeweglich auf
seinem Schemel hockte, beide Hände weich und wie schützend vor sein
leicht gesenktes Gesicht gelegt. Er ließ das Essen unberührt; er schien
zu schlafen, als man ihn wieder zur Verhandlung; rief.
    Die Verteidigung warf jetzt die Frage auf, ob der Angeklagte
jene Hacke, mit der seine Mutter ihn angetroffen habe und auf die sie
bisher ihre Anklage stütze, nicht lediglich dazu benutzt haben könne,
den alten Bettler, der um die fragliche Zeit auf dem Hofe der Domäne
sich aufgehalten, zu verjagen. Dieser alte Zigeuner war nach seiner
Entlassung aus der damaligen Haft von seiner Bande abgefallen und hatte
sich durch die ganze Zeit in der Umgebung von Treuen aufgehalten. Er
sei geladen, und die Verteidigung beantrage seine Vernehmung vor der
der Mutter.
    Der Alte wurde vorgeführt. Er war über und über mit einer
womöglich noch dickeren Kruste von Schmutz und Erde bedeckt als früher,
die gleichmäßig fast sein ganzes Gesicht, Haar, Hände und Kleidung
überzog; sie war mit Strohhalmen, mit Resten von Unrat verflochten, die
von den Kehrichthaufen oder Stallecken hängengeblieben waren, welche
ihm zum Nachtlager dienten. Sein Erkennungszeichen, die Wunde am Hals,
war unter Schmutz verschwunden, den ihm erst ein Gerichtsdiener
abkratzen mußte, damit sie festgestellt werden konnte. Er ging schwer.
Seine Füße, mit unerkennbaren Lumpen und Lederresten umwickelt,
schienen bei jedem Schritt mit der Erde zu verwachsen und mit
unendlicher Mühe sich wieder von ihr

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