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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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zum Schafott bringen kann?«
    »Er ist doch ein Mörder!«
    »Er ist doch Ihr Sohn!«
    »Darum weiß ich es.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ich weiß es, und darum will ich sterben, ich kann nicht mehr
leben.«
    »Ganz recht, Sie waren so von der Schuld des Angeklagten
überzeugt, daß Sie einen Selbstmordversuch machten. Haben Sie nun,
gesetzt den Fall, es wäre so, auch darüber nachgedacht, aus welchem
Grunde wohl der Angeklagte das Kind ermordet haben sollte?«
    »Ich weiß es.«
    »Nun, warum?«
    »Ich kann es vor den Menschen nicht sagen.«
    »Vor den Richtern aber wollen Sie es sagen?«
    »Ja.«
    Es wurde auf kurze Zeit die Öffentlichkeit von der Verhandlung
ausgeschlossen. Der Richter fragte die Zeugin leise, in fast zartem
Ton: »Nun, warum, glauben Sie, hat der Angeklagte diese Tat getan?«
    »Er mußte es tun, es war sein Trieb.«
    »Haben Sie irgendwelche unzüchtigen Handlungen an ihm bemerkt?«
    »Nein. Niemals.«
    »Also, können Sie uns nicht den Grund sagen?«
    »Ich will alles sagen, denn er muß bestraft werden. Es fängt
bei seinem Vater an, der hat mich niedergeworfen und hat mich entsetzt,
mich mit Gewalt gezwungen, und ich habe dann das Kind bekommen. Es war
aber ein gutes und sanftes Kind. Es war auch schön, sehr schön. Einmal
war er krank, und ich habe ihn gewaschen am ganzen Körper, und da habe
ich seine Blöße gesehen, und es war kein Kind mehr, sondern ein Mann,
und es war böse, es war ein schwarzer Trieb, und es war nicht mehr mein
Kind, ich habe mich vor ihm gefürchtet. Und wie ich die Hacke holte,
habe ich alles gewußt, Herr Richter, und sie hätten mich totschlagen
sollen, sie sollen ihn totschlagen, und sie sollen mich totschlagen,
denn es ist doch mein Kind, das ist das Beste«, und sie wandte sich
plötzlich gegen den Sohn, hielt ihm ihr zerfetztes, bleiches Antlitz
entgegen, und während ihre Augen mit unzerstörbar guten Mutterblicken
seine Gestalt umfingen und ihr Herz, zerschnitten und zerfetzt wie ihr
Gesicht, mit unversiegbarer Zärtlichkeit sich füllte, flehte sie ihn
an: »Lüge nicht; laß dich erschlagen, laß dich totschlagen, du weißt ja
nicht, wie böse du bist Ich will es dir ja sagen, aber wie soll ich es
nur sagen? Es ist so furchtbar mit dir, wenn du Freude haben willst,
mußt du immer Böses tun, verstehst du das, die Natur ist böse in dir;
du dürftest kein Mann sein, es wird nur immer Schreckliches aus dir
kommen, leugne nicht, laß dich totschlagen, wenn du stirbst, sterbe ich
auch, du bist mein Kind!« Sie war langsam bis an die Barriere gekommen,
mit einem heftigen, sehnsüchtigen Griff riß sie den Kopf des Kindes an
ihre große Brust, preßte sein Gesicht gegen ihr Herz, fest und fester,
mit aller Kraft, mit allem Wunsch, ihn da zu ersticken, seinen Atem
aufzusaugen mit den Stößen ihres Herzens. Vergebens wehrte sich der
Sohn gegen die eiserne Umarmung, erst zwei herzutretende Gendarmen
konnten sie voneinander trennen. Keuchend, mit halb ersticktem Atem und
hochgerötetem Kopf erhob sich Fritz, während die Mutter erschöpft mit
leisem Weinen zusammensank.
    Der Vorsitzende wandte sich an den Angeklagten: »Angeklagter,
was haben Sie zu den Worten Ihrer Mutter zu sagen?«
    Er antwortete, immer noch keuchend, mit heißen, vorgequollenen
Augen in dem roten Gesicht, sehr schnell: »Ich habe nichts getan.«
    Die Zeugin wurde entlassen und die Öffentlichkeit
wiederhergestellt. Es war schon nachts, als die Verhandlung schloß. Das
Urteil sollte am nächsten Tag gefällt werden.
    Richter, Staatsanwalt und Verteidiger schliefen selbst nach den
Anstrengungen dieses Tages kaum einige Stunden in der Nacht. Hatte es
schon die Anspannung aller Geisteskräfte gefordert, die Tatsachen
dieses Prozesses zu klären und zu bestimmen, schien es jetzt, wo nun
das Urteil gefällt werden sollte, ganz unmöglich, die letzte Klarheit
zu erkennen. Nach monatelanger Arbeit in der Untersuchung, mit einer
sein eigenes Dasein ganz auslöschenden Hingabe, mit einer ihn selbst
verwirrenden Einfühlung in die Atmosphäre der schrecklichen Tat erwog
der Richter noch in der letzten Nacht Schuld und Urteil in der gleichen
Ungewißheit wie am ersten Tage.
    Der Angeklagte schlief auch in dieser Nacht tief und traumlos.
Doch hatte der Anblick der Mutter, ihr von Leiden und Narben zerfetztes
und entstelltes Gesicht und mehr noch ihre furchtbaren Worte ihn mit
Macht getroffen. Diese Worte, die mehr als Worte, die Blutzeugen seines

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