Das verlorene Kind
aufzuheben. Dagegen sprach er
jetzt fließend, lachte viel, und seine Augen blickten schwarz, lebendig
und klug aus dem unter Bart und Schmutz versteckten Gesicht hervor. Er
erkannte den Angeklagten sofort wieder und erhob drohend gegen ihn den
Finger. Der Vorsitzende legte ihm eine Abbildung des Gutshofes in
Treuen vor und fragte ihn, ob er sich besinnen und zeigen könne, aus
welcher Richtung der Angeklagte mit der Hacke hergekommen sei. Er
zeigte sofort auf die Gartenseite der Scheune.
»Und was tat der Angeklagte mit der Hacke, als er Sie sah?«
»Oh, er wollte sie auf mich feuern, der schlimme Kerl, es ist
ein schlimmer Kerl, ich bin schon alt, und manchmal muß ich stehlen,
ein alter Mann kann doch ruhig einen Apfel stehlen im Sommer, wo sie an
den Bäumen hängen, die Menschen haben ja immer Äpfel gestohlen, Herr
Richter, das wissen Sie doch auch, Sie wissen schon, wo ich meine. Aber
gleich kommt einer mit der Hacke, das ist zu hart, Herr Richter, zu
hart.«
»Haben Sie noch bemerkt, wohin der Angeklagte sich dann mit
der Hacke wandte?«
»Ich habe ihm den Rücken gekehrt, wie einem Teufel. Ich wollte
ihn lieber hinter mir haben, ich bin gelaufen, einmal habe ich mich
umgedreht, da hat er beim Brunnen gestanden und hat gelacht. Er ist ja
sehr hübsch, aber schlimm, Herr Richter.«
»Und haben Sie sonst nichts bemerkt, etwas Auffälliges?«
»Nichts bemerkt, nichts. Es war so schön leer im Hof. Zwei
oder noch mehr Äpfel hätte ich bekommen können.«
»Nehmen Sie sich in acht, wenn Sie stehlen, kommen Sie mit dem
Gesetz in Konflikt, Sie wissen doch, daß man nicht stehlen darf?«
»Jawohl, Herr Richter, man darf es nicht, jawohl«, und seine
schwarzen Augen funkelten vor Vergnügen, als er das sagte.
Der Vorsitzende beherrschte sich und fragte ruhig weiter: »Und
Sie haben auch von dem Kind, das, Sie wissen ja, an dem Tag verschwand,
nichts bemerkt?«
»Nein, es war leider kein Kindchen zu sehen, es hätte mir die
Äpfel geschenkt. Es lief aber keines herum, es hat auch keines gerufen
oder geschrien. Ich weiß schon, nach dem Kind habt ihr mich schon immer
gefragt, aber ich habe keines, habe keines gehabt, wie ich jung war,
auch nicht, bin kein Väterchen.« Alles lachte. Der Verteidiger stellte
fest, daß kein Beweis vorliege, daß der Angeklagte mit der Hacke
wirklich in der Scheune war.
Die Mutter wurde wieder vorgeführt. Sie war ruhiger, und das
Verhör nahm seinen formellen Lauf. Der Vorsitzende:
»Sie wissen, daß Sie als Mutter des Angeklagten da3 Recht
haben, Ihre Aussagen, soweit sie ungünstig sind, zu verweigern?«
»Ja.«
»Trotzdem traten Sie in der Voruntersuchung als Kronzeugin auf
und sprachen als erste bei dem Auffinden der Leiche den furchtbaren
Verdacht über Ihren Sohn aus.«
»Ja.«
»Halten Sie denselben auch heute noch aufrecht?«
»Ja.«
»Und sind bereit zu erklären, von dem Recht der Aussageverweigerung
keinen Gebrauch zu machen?«
»Ja.«
»Wollen Sie den Eid leisten?«
»Ja.«
Der Vorsitzende ließ Emma schwören. Sie umkrampfte dabei mit
beiden Händen das einfache Kreuz.
»Wollen Sie uns nun die Gründe Ihres Verdachtes angeben?«
»Welche Gründe?«
»Nun, woraus schließen Sie die Schuld Ihres Sohnes an dem Tod
des Kindes?«
»Ich weiß es.«
»Nun, und woher wissen Sie es? Haben Sie etwas von der Tat
bemerkt?«
»Ich habe keine Tat gesehen.«
»Also wann stieg Ihnen zum erstenmal der Verdacht auf?«
»Ich mußte die Hacke holen, wie das Kind gefunden wurde, und
wie ich sie in der Hand hielt und in die Scheune lief, da wußte ich es.«
»Die Hacke hat Sie also daran erinnert, daß Sie Ihren Sohn vor
Jahresfrist damit sahen?«
»Ja, wie ich die Hacke in der Hand hielt und in die Scheune
lief, hat sie hin und her geschaukelt wie bei ihm.«
»Von welcher Richtung kam damals Ihr Sohn?«
»Es war im Scheunentor.«
»Damals war Ihnen nichts verdächtig erschienen?«
»Nein.«
»Und auch während des ganzen vergangenen Jahres haben Sie nichts
Verdächtiges an dem Angeklagten bemerkt?«
»Nein.«
»Wie war er zu Ihnen?«
»Sanft und gut und fleißig.«
»Sprachen Sie mit ihm über das Verschwinden des Kindes?«
»Wir haben zusammen gebetet, daß das Kind wiedergefunden
werden möchte.«
»Und er hat mitgebetet?«
»Er hat gebetet und gesungen mit mir.«
»Ihr Verdacht ist also doch nur eine Vermutung, oder sagen wir
ein Gefühl, und daraufhin erheben Sie eine solche Anklage, die einen
Menschen
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