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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Wand anschließen. Das schlimmste aber würde wohl
sein, daß jeder an ihn herantreten, ihn berühren konnte; er dachte sich
aus, daß er, mit den Händen in einem eisernen Ring festgeschlossen,
sich wohl von dem Wärter an- und auskleiden lassen müsse, da er doch,
ewig gefesselt, keine Handreichung, auch nicht die letzte um der
Notdurft willen, mehr tun konnte. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit
Entsetzen, mit einer grauenhaften Furcht vor der Strafe. Er sprang vom
Lager auf und eilte zur Tür. Sein Trieb, zu entfliehen, war so stark,
daß er an der Türe rüttelte, daß er nicht begriff, daß sie sich nicht
öffnete. Er tastete an den Wänden der Zelle umher nach einem Ausgang,
stumm, klopfenden Herzens, Schweiß rann in der Kälte an seinem Körper
herab. Plötzlich aber stand er vor dem Fenster still, vor dessen Gitter
weiß und voll die Scheibe des Mondes schwamm, ein unbewegliches
Gesicht, von Gebirgen wie von Narben zerfetzt, ein stilles, kaltes,
ausgebranntes Gestirn. In seinen Anblick verlor er sich ganz, von dem
bleichen Schein, der auf seiner kindlichen, heißen Stirne ruhte, floß
ein Strom von Kälte wie der Hauch tödlichen Eises in sein Herz, dessen
Schläge sich zu entfernen schienen, wie leise davonschleichende
Schritte verklangen, die Kraft verließ seinen Körper, er sank zusammen.
    Am Morgen fand ihn der Wärter am Boden liegend in tiefem
Schlaf, die Glieder steif von Kälte. Er begann, um ihn gleichzeitig zu
erwärmen und zu erwecken, seinen Körper mit den Händen zu reiben, doch
kaum erwacht, stieß ihn Fritz mit Entsetzen und Gewalt von sich und
richtete sich auf, so schnell es seine von Kälte und von dem harten
Lager auf dem Steinboden gelähmten Glieder erlaubten. Der Wärter, halb
abgewandt, beobachtete ihn von der Seite, sagte nichts und verließ die
Zelle. Verstört setzte sich Fritz auf den Rand seines Bettes nieder.
Beim Erwachen hatte er die Schwere seiner Glieder wie Ketten gefühlt,
die ihn umschnürten, das Tasten des Wärters an seinem Körper hatte ihn
entsetzt, er glaubte die Strafe schon erfüllt. Langsam aß er die heiße
Morgensuppe, die ihn erwärmte und seine Erstarrung löste. Doch wich die
Bedrücktheit und Sorge nicht von ihm. Der Morgen war ein Sonntag. Den
Gefangenen in Untersuchungshaft war es erlaubt, während der Reinigung
der Zellen auf dem langen Gang sich etwas zu ergehen. Es ergab sich
dabei oft, daß die Gefangenen einige Worte miteinander austauschen
konnten, nur mußte laut und dem Wärter hörbar gesprochen werden. Fritz
hatte bisher von dieser Erlaubnis nie Gebrauch gemacht. Er hatte kein
Bedürfnis nach Freiheit, nach Bewegung und am wenigsten nach Menschen
gehabt. Heute jedoch, im Innersten verwirrt durch Furcht, schlich er
sich an die geöffnete Zellentür und spähte vorsichtig auf den langen,
dämmerig erleuchteten Gang. Er ließ die wandelnden Gestalten der
Gefangenen, die, als ob sie jeden einzelnen freien Schritt bis zum
äußersten auskosten wollten, in langsamen, sorgsam ausgetretenen
Schritten gingen, an sich vorüberziehen, bis er mit einem plötzlichen
Entschluß einen jungen Mann förmlich ansprang und mit seinen Füßen sich
in dessen müden, aber doch leichten und federnden Schritt einschmiegte.
Dieser junge Mann glich dem Herrensohn auf Treuen, Gustav, hatte
dunkles Haar, ein blasses, schmales Gesicht, das von Verzweiflung und
bitterer Melancholie verwüstet war. Er warf unter seiner gefalteten
Stirn einen kurzen Blick aus den dunklen Augen auf Fritz, als der mit
einem Satz sich zu ihm gesellte, doch sagte er nichts. Sie gingen
nebeneinander her. Fritz fühlte erst mit Staunen, dann aber mehr und
mehr mit Qual, wie er im Takt der Schritte innig verbunden mit einem
anderen Menschen ging; er wollte sich davon losmachen, wollte
entrinnen, versuchte seine Schritte zu verdoppeln, doch der Abstand
zwischen den Gefangenen war zu kurz, er stieß sofort an den Vordermann
an, er mußte zurückbleiben und war wieder eingezwungen in den Schritt
des anderen. Zornige Erregung und hilflose Angst ergriffen ihn. Schweiß
perlte von seiner Stirn. Er dachte, es wäre vielleicht doch besser
gewesen, ihn zu erschlagen, wie die Mutter es wollte. Endlich, nachdem
er lange an seinem Trotz und seiner Angst gewürgt hatte, begann er
heiser und mit unendlicher Mühe zu sprechen: »Gestern haben sie mich
verurteilt.«
    Der andere ließ seinen dunklen, traurigen Blick über ihn
gleiten, sagte aber

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