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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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nichts.
    »Zuchthaus ist eine sehr böse Sache, was?«
    Der andere zuckte die Achseln. »Die Menschen verdienen es«,
sagte er mit einer dunklen, klangvollen Stimme.
    »Aber sie müssen einem doch abends die Ketten abnehmen, wenn
man sich auf die Pritsche legt und sich ausziehen muß! Das muß man doch
alles selber machen können, bei großen Leuten macht das doch niemand
mehr gern, die Mutter macht es auch nicht gern, wenn man schon groß
ist, das weiß ich jetzt.«
    »Ich verstehe nicht, was Sie meinen,« sagte der andere
lächelnd, »doch wenn Sie meinen, daß Sie im Zuchthaus hilflos mit
Ketten angeschmiedet werden, so sind Sie im Irrtum. Das geschieht nur
in ganz seltenen Fällen, zum Beispiel, wenn Sie sich gewalttätig
benehmen. Im allgemeinen aber bewegen Sie sich dort so frei, wie es
eben in einem Zuchthaus möglich ist.« Bei dieser Rede lächelte der
Gefangene vor sich hin und warf einen liebenswürdigen Blick auf den
Wärter, der sich sofort nach Beginn des Gespräches ihnen genähert hatte.
    »Sie wissen das? Sie wissen das?« fragte Fritz gierig.
    »Gewiß, es ist so«, war die Antwort
    Ohne noch etwas zu erwidern, löste sich Fritz mit einem Satz
wieder aus der Reihe, aus dem Gleichklang der Schritte, und stürzte in
seine Zelle zurück. Hochatmend stand er da still, legte sich selbst
beruhigend die Hand auf sein klopfendes Herz. Der Wärter trat in die
Zelle ein.
    »Was hast du denn?« fragte er. »Du brauchst dich nicht
aufzuregen, du kommst ja gar nicht ins Zuchthaus, hast doch nur
Gefängnis gekriegt. Das ist nicht anders wie hier bei uns, und hier
hast du es doch gut, wie?«
    Fritz sah den Wärter mit einem kindlichen, vor Freude
geweiteten Blick an. »Ich habe kein Zuchthaus gekriegt?« fragte er
leise.
    Der Wärter schüttelte den Kopf.
    Fritz senkte den Blick zu Boden. Leise erzitterte sein Körper,
sein Gesicht überzog sich mit zarter, heller Röte, und Tränen rannen
still und schnell unter den gesenkten Lidern hervor. Der Wärter wandte
sich ab und ging langsam zur Tür. Dort blieb er stehen. Nach einer
Weile fragte Fritz wieder leise: »Kann ich die Strafe gleich kriegen?«
    »Jawohl, das kannst du. Du mußt dich vorführen lassen und
deine Erklärung abgeben, daß du mit dem Urteil einverstanden bist.«
    »Ach ja.«
    »Soll ich also melden, daß du morgen vorgeführt werden willst?«
    »Ja.«
    »Das ist gut. Die Strafe ist ja auch milde.«
    »Ja, die Strafe ist milde«, wiederholte Fritz.
    »Das ist schön, daß du das einsiehst. Ich werde es also
melden«, sagte der Wärter, dann ging er und verschloß die Tür.
    Fritz wanderte mit leichten, glücklichen Schritten in der
Zelle umher, atmete tief durch die von den aufsteigenden Tränen
zusammengepreßte Kehle, mit dem Handrücken wischte er sich die feuchte
Spur der Tränen von dem Gesicht. Er war zum erstenmal erschüttert, er
weinte zum erstenmal. Böses hatte sich ihm in Gutes verwandelt. Furcht
in Freude. Die milden Worte des Wärters hatte er noch im Ohr und hielt
sie gegen die bösen Drohungen der Mutter. Zum erstenmal fand er auch
als Mensch zum Menschen. Zum erstenmal auch fühlte er die Menschen
nicht nur als Feinde, die ihm nachspürten, ihn aufscheuchten aus den
schützenden Winkeln seines Schlafes und seiner Arbeit, sondern er
fühlte sie jetzt auch als Freunde, die ihm gute Botschaft gaben, als er
das Schlimmste fürchtete. Er war ergriffen, er fühlte Dankbarkeit. Er
hörte auf, mit müßigen Schritten in der Zelle umherzugehen, stürzte
sich über seine Korbflechterei her, die man ihm als Arbeit gegeben
hatte, und vertiefte sich mit fieberhaftem Fleiß darein, als könnte er
so für alles danken. Müde von Arbeit und erschöpft von den Erregungen
schlief er gut die Nacht. Am nächsten Morgen wurde er in die
Gerichtskanzlei geführt und hörte mit glücklichem Lächeln den Sekretär
an, der ihm bedeutete, daß er das Recht noch habe, seine Angelegenheit
durch zwei höhere Instanzen zu verfolgen.
    »Ich will die Strafe kriegen«, sagte er als Antwort.
    »Mit anderen Worten: Sie wollen also jetzt ein Geständnis
ablegen?« fragte der Sekretär.
    »Nein, ich komme nur wegen der Strafe.«
    »Wie wollen Sie sich also erklären?«
    »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.«
    Der Sekretär beriet nun mit ihm, wie die Erklärung aufgesetzt werden
sollte. Der Wortlaut, zusammengesetzt aus den formellen Bezeichnungen
des Sekretärs und den persönlichen Ausdrücken des Gefangenen, war

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