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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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folgender: »Ich beruhige mich bei dem gegen mich unter dem
6. Dezember dieses Jahres ergangenen Strafurteil und bitte,
die mir zuerkannte fünfzehnjährige Gefängnisstrafe sofort antreten zu
dürfen. Ich sehe, ich komme von der Strafe nicht ab, und will sie
deshalb gleich auf mich nehmen.« Fritz unterschrieb mit seinem Namen in
großen, schön ausgeschriebenen Buchstaben. Auf diese Erklärung hin
wurde auch seine bisherige Untersuchungshaft sofort in Strafhaft
verwandelt.
    Die nächste Woche verging gut. Der Gefangene war ruhig,
heiter, er arbeitete und sang, seine Zelle hielt er sauber, und mit
einer Art naiven Entzückens hatte er sogar die Gefängniskleider
angelegt, die ihn wie eine sonderbare Verkleidung anmuteten. Am dritten
Tage nach der Erklärung besuchte ihn zum erstenmal der
Anstaltsgeistliche. Fritz bezeigte bei seinem Eintritt in die Zelle
eine strahlende Freude. Er errötete über und über und folgte mit
glänzenden Augen den Worten des Pfarrers. Er empfand es mit ungeheurem
Stolz, daß ein Pfarrer, den er bisher stets nur von weitem gesehen
hatte und immer nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen, der in der
feierlichen Kirche immer erhoben über den anderen auf der Kanzel oder
den Stufen des Altars gestanden hatte, nun hier zu ihm allein in seine
Zelle kam, auf gleichem Boden sich mit ihm befand, auf seinem Schemel
saß, während er vor ihm stand.
    Der Pfarrer war überzeugt von der Schuld des Gefangenen. Es machte ihn
tief erstaunen, bei dem Mörder eines unschuldigen Kindes eine solche
Hingabe für Gebet und Predigt zu finden. Er hoffte fest, den Sünder zur
Reue, den Mörder zum Geständnis zu führen. Am ersten Tage prüfte er ihn
und hörte ihm das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und die zehn
Gebote ab. Er sah, wie ruhig und andächtig die Lippen des Mörders über
das Gebot glitten: »Du sollst nicht töten.« Doch der Pfarrer verzagte
nicht, 'ich muß sein Gewissen erst erwecken', dachte er.
    »Denkst du oft an Gott?« fragte er Fritz.
    »Ich bin schon lange nicht in die Kirche gegangen«, antwortete
Fritz beschämt.
    »Gott ist überall, er ist allwissend und allsehend. Er sieht
alle deine Taten, er weiß alle deine Gedanken. Fürchte dich vor ihm!«
    »Ja«, sagte Fritz.
    »Und wenn du Gott erzürnt hast, wenn du seine Gebote oder nur
eines seiner Gebote übertreten hast, dann zittere vor seiner Strafe,
denn sie ist furchtbarer als die Strafe der Menschen.«
    »Ja.«
    »Denke also an Gott! Denke an ihn, bevor du einschläfst! Denke
an deine furchtbare Sünde! Denke an Gottes Strafe, die über dich kommen
wird, dann bete!«
    »Ja.«
    »So wollen wir heute noch gemeinsam in Ehrfurcht vor Gottes
großer Allmacht das Lied singen 'Erzittere meine Seele vor Gottes
mächt'gem Zorn'.« Der Pfarrer stimmte an, und Fritz fiel mit seiner
hellen, schönen Stimme ein, übertönte freudig den rauhen Gesang des
Pfarrers. Er sang auch noch lange weiter, als er wieder allein war, er
erinnerte sich aller Lieder, die er gemeinsam mit der Mutter im Sommer
in der Laube gesungen hatte, als alles noch gut gewesen war. Die
Dämmerung kam früh, doch Schnee, der in dichten Flocken fiel, erhellte
die Zelle. Er legte sich nieder, in der Kälte faltete er die Hände
unter der Decke, dachte an den Geistlichen und betete. Er dachte an die
Worte des Pfarrers »Gott sieht alles!« und ein Schauer überrieselte
ihn. Doch auch die Mutter hatte alles gesehen, in seinem Schlaf hatte
sie erblickt, was man vor sich selber doch verbergen mußte. Er wollte
zu Gott beten und wollte zur Mutter beten. Doch in der tiefen Erwärmung
seines Blutes schlief er ein, die Hände über dem Schoß gefaltet. Im
Traum aber versank er bis zu den Hüften in warm dampfende, schwimmende
Nebel, die seinen Leib mit unfaßbar weichen Wellenschlägen umkosten,
während sein Haupt mit eisern hartem Druck von obenher niedergepreßt
wurde gegen sein eigenes Herz, wo es plötzlich ruhte, abgetrennt vom
Nacken, doch lebendig, mit Ohren, die seine eigenen Herzschläge hörten,
mit Augen, die niederblickten zum eigenen Leib, der aber unsichtbar
war, aufgelöst in weich schleichende, farblos wogende Wolken. Doch der
Nebel ward weißer und dichter, er ballte sich zusammen, das weiße,
volle, sanfte Gesicht seiner Mutter schwebte auf zwischen seinen
Schenkeln, schlafend und friedlich, doch plötzlich sprang das rote
Gestrüpp ihrer Narben auf, glühte und leuchtete böse, ihr Mund weitete
sich, sie

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