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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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schlug die Augen auf, ihr Blick, von seinem Schoße aufwärts
gerichtet, senkte sich in den Blick seines Hauptes, das auf dem eigenen
Herzen ruhte. Seine Hände aber schoben sich zwischen den Blick der
Mutter und seines eigenen Hauptes Blick, glitten den Leib hinab, dort
sprangen seine Finger auseinander, um einzuschlagen in das Netz der
Wundnarben, die für sich zu leben begannen, auf und nieder zuckten wie
feurige Schlangen, während das Antlitz der Mutter versank. Da schnellte
sein Kopf zurück, sein Herz schlug frei auf, er öffnete die Augen, und
nach langer Zeit merkte er, daß er erwacht war.
    Weiß erhellt war die Zelle von dem silbernen Licht des Mondes,
das wiederum durchwirkt war von dem lebendigen Widerschein der
fallenden Flocken. Es war still und feierlich um ihn. 'Gott sieht
alles', dachte er noch einmal und zog die Hände unter der Decke hervor,
sorgfältig deckte er sich ringsum zu und ließ die Hände auf der Decke.
In seinem Nacken fühlte er noch den furchtbaren Schmerz des Traumes.
'Ich will die Strafe haben', dachte er. Er schlief wieder ein. Er
erinnerte sich am nächsten Tag des Traumes nicht mehr genau, doch
fühlte er sich zerschlagen, seine Glieder waren schwer und schmerzten.
Überall drohte das Antlitz der Mutter aufzutauchen, er wagte nicht, an
sie zu denken. Er war still, sang nicht und arbeitete fleißig. Am
Sonntag morgen kam der Geistliche zu ihm, sie beteten und sangen
zusammen.
    »Hast du an Gott gedacht?« fragte der Pfarrer.
    »Ich habe jeden Abend gebetet.«
    »Hast du erkannt, wie groß deine Sünde vor ihm ist?«
    »Ja.«
    »Hast du auch erkannt, in welchem Gebot du dich gegen Gott versündigt
hast?«
    Fritz schwieg.
    »Sage mir die zehn Gebote Gottes.«
    Fritz zählte sie auf.
    »Denke nun daran, Abend für Abend, und prüfe dich in Furcht
und Demut, welches seiner Gebote du übertreten hast. Du mußt erkennen,
bekennen und bereuen. Verstehst du das?«
    »Ich muß erkennen und bereuen.«
    »Willst du das befolgen?«
    »Ja.«
    »Denke daran, daß Gott alle, die seine Gebote übertreten, mit
schwerer Strafe straft. Wenn du aber erkennst und bereust, kannst du
durch die Gnade Christi gerettet werden. Erkenne und bereue.«
    »Ja.«
    »Fürchte Gottes Strafe!«
    »Die Strafe ist milde.«
    »Des Menschen Strafe, mein Sohn, du meinst des Menschen
Strafe. Des Menschen Strafe ist leicht, denn sie trifft nur den Leib.
Aber Gottes Strafe ist furchtbar, denn sie trifft die Seele. Deine
Seele, das ist das Unvergängliche in dir, das unvergänglich Gute und
das unvergänglich Böse. Du mußt das Gute in dir retten. Du bist aber
zum Bösen verdammt, wenn du nicht Gott erkennst in seinen Geboten, und
wenn du nicht deine Sünden erkennst gegen seine Gebote. Ich will dich
zu Gott führen, zu seiner Strafe und zu seinem Erbarmen.«
    »Ja«, sagte Fritz leise, während seine Augen glänzten. Der Geistliche
verließ ihn gerührt und in der festen Hoffnung, daß er ihm bald seine
Tat gestehen würde.
    Doch am Nachmittag dieses Sonntags trat der Wärter ein und
sagte Fritz, sein Vater sei da und wolle ihn besuchen. Völlig
verständnislos folgte er dem Wärter in die Besuchszelle. Er hatte nie
an seinen Vater gedacht, er wußte nichts von ihm, denn er wußte auch
nichts mehr von jener Begegnung in seiner Kinderzeit, wo er feindselig
in des Vaters dargereichte Hand gebissen hatte. Jetzt erblickte er
durch die Stäbe des trennenden Gitters die hünenhafte Gestalt eines
Mannes, ein fahles, riesiges Gesicht, umgeben von schmutzig-rotem Bart,
kleine, schwimmende Augen.
    Der Vater brach beim Anblick des Sohnes in ein lautes,
dröhnendes Gelächter aus. Er riß seinen breiten, wie ein Maul zwischen
den Kiefern eingeschnittenen, farblosen Mund auf und stieß mit jedem
frischen Atemzug sein lachendes Gebrüll von neuem aus, bis endlich der
Sohn, der ohne Empfindung und Gedanken dastand, mit seinem hellen,
leisen Lachen einstimmte. Endlich beruhigte sich der Alte, und seinen
Atem sammelnd, stieß er die Worte aus: »Na, du Aas. Da ist mein Sohn,
das Aas! Kennst du mich? Willst du mich noch einmal beißen?« Er hielt
seine rechte Hand hoch, an der am Ballen des Daumens drei weiße,
perlengroße Narben zu sehen waren.
    »Warum beißt du jetzt nicht, du? Warum hast du dich denn
einsperren lassen? Schämst du dich nicht?«
    »Die Strafe ist milde«, sagte der Sohn.
    »Das sagt wohl deine Mutter?«
    Darauf schwieg Fritz.
    »Du dummes Aas, deine Mutter, das ist

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